Montag, 27. Februar 2012

Ist das Ende der moralischen und geistigen Krise des Abendlandes in Sicht?


von Plinio Corrêa de Oliveira


       Papst Leo XIII. lehrt uns in seinem Rundschreiben „Annum ingressi sumus“, dass die heutige Welt mit ihrem Fortschritt, ihren Krisen, ihrem Reichtum und ihren Schwächen eine Frucht von zwei nicht nur verschiedenen, sondern sogar entgegengesetzten Einflüssen ist. Zum einen ist die von der Kirche aufgebaute christlichen Zivilisation auf dem Fundament des Glaubens, der Reinheit, der Disziplin und des Heldentums begründet, das die Missionare des Frühmittelalters in die Seelen der Barbaren eingepflanzt haben. Zum anderen ist da die skeptische, sinnliche, egoistische und stets zur Aufwiegelung bereite Welt, die ihren Ursprung hat in der protestantischen Reformation, sich weiter entwickelte in der Französischen Revolution und heute die Irrtümer der kommunistischen Auflehnung zu verbreiten versucht.

      Dieser tiefe Gedanke Leos XIII., der eigentlich das Leitmotiv beim Unterricht der mittelalterlichen, modernen und zeitgenössischen Geschichte in den katholischen Schulen und Universitäten sein sollte, erklärt das Wesentliche der großen Krise unserer Zeit.

Die christliche Auffassung von Gott und Schöpfung
     
      Gemäß der katholischen Lehre ist Gott ein persönliches, transzendentales Wesen, das Wesen par excellence, das in sich alle Vollkommenheit birgt. Alle anderen Wesen wurden aus dem Nichts von Gott geschaffen und würden zum Nichts zurückkehren, wenn Gott ihr Bestehen nicht ununterbrochen erhielte. Ihre Eigenschaften sind nicht mehr als eine Widerspiegelung seiner eigenen Vollkommenheit. Ihr einziges Ziel besteht darin, Gott zu dienen und ihn zu verherrlichen. Zwischen Gott und den Geschöpfen besteht also die größte Ungleichheit, die man sich vorstellen kann.
      Ihrerseits, sind die Geschöpfe unter sich ungleich. Die Engel sind reine Geister. Nach ihnen kommen die Menschen, die zugleich Geist und Körper besitzen; dann, in herabsteigender Rangordnung, die Tiere, die Pflanzen und die Mineralien. Jede dieser Kategorien weist ihrerseits eine Hierarchie auf. Die Engel sind in neun ungleichen Chören unterteilt. Die Menschen wurden zu einem unterschiedlichen Grad der Heiligkeit berufen und sind vor Gott unterschiedlich in den Reihen der glorreichen, sühnenden oder streitenden Kirche platziert, je nach dem wie sie der Gnade entsprochen haben oder entsprechen.
Auch wenn wir die Struktur der Kirche betrachten, wie viele Ungleichheiten kommen da zum Vorschein! Die Kirche setzt sich aus zwei extrem unterschiedlichen Teilen zusammen: Erstens, die Hierarchie, der die Aufgabe zukommt, das Volk zu führen, zu lehren und zu heiligen und zweitens, die Laien, die geführt, gelehrt und geheiligt werden.



Jesus Christus, der Gott-Mensch

      Beim betrachten dieser Ungleichheiten, darf man die göttliche und menschliche Person Unseres Herrn Jesus Christus nicht vergessen. Als Mensch gewordenes Wort Gottes ist Er über alle Geschöpfe erhaben, in seiner Menschlichkeit unterliegt Er der Natur der Engel, die ihn aber zugleich in seiner Göttlichkeit und Menschlichkeit anbeten.
Und die Jungfrau Maria, als Mutter des Gott-Menschen, obwohl sie Gott unendlich untergeordnet und auch, was die Natur betrifft, den Engeln unterlegen ist, verdient sie es, dass ihr gedient wird als Königin der Engel.



Die Tugend der Demut

      Die Demut ist die Tugend, die den Menschen dazu führt, die unendliche Überlegenheit Gottes und die begrenzte Überlegenheit der anderen Geschöpfe, sei es durch Talent, Schönheit, Reichtum oder Tugend, zu lieben.
      In einer Welt, in der Demut herrscht, ist die Hierarchie eine zu lieben würdige Selbstverständlichkeit. Hört aber die Demut auf zu bestehen, sind der Hass gegen die Hierarchie, der Durst nach Gleichstellung und folgend nach der Revolution unvermeidlich. Demut und Hierarchie, Hochmut und Auflehnung sind also zusammenhängende Begriffe.



Folgen des Hochmuts

      Als der Hochmut innerhalb der hierarchischen Kirche zum Ausbruch kam, erzeugte er den Protestantismus, der die freie Bibelauslegung einführte, das kirchliche Lehramt verneinte und aus jedem Menschen einen Papst für sich selbst machte. Es gab zwar weiterhin im Protestantismus Geistliche und Laien, der Unterschied zwischen ihnen aber war nur akzidentell. Einige Zweige des Protestantismus haben nicht nur den Papst durch den Bruch abgeschafft, sondern auch die Bischöfe; weiter andere auch die Priester. Die religiösen Ordensgemeinschaften wurden aufgelöst. Die Verehrung der Engel und Heiligen wurden abgeschafft und die Herrschaft Mariens über die ganze Schöpfung wurden verneint.
In einer zweiten Phase stürzte sich der gleichmacherische Hochmut auf die weltliche Hierarchie. Nach derselben revolutionären Logik wurden die Könige und die verschiedenen Abstufungen des Adels und der Aristokratie abgeschafft. Das "Dogma" der freien Auslegung rief das "Dogma" der Volksherrschaft hervor.
       Dies war die Arbeit der Französischen Revolution von 1789.
       Es blieb noch die Ungleichheit der Vermögen. Der marxistische Sozialismus und der Kommunismus übernahmen auf diesem Gebiet später dasselbe, was die protestantische und die Französische Revolution im kirchlichem und weltlichem Bereich unternommen hatten.
Es sollte auf der Welt keinen Gott, keinen Papst, keine Bischöfe, Priester, Könige, Herren und Obrigkeiten mehr geben.



Auflehnung gegen den Glauben

      Der Glaube, ein Hauptzug der christlichen Seele, ist auch, unter gewissen Aspekten, ein Akt der Demut. Der Mensch nimmt die offenbarten Wahrheiten an, nicht, weil er sie kraft seines Verstandes entdeckt hat, sondern weil Gott sie geoffenbart hat.
      Der Hochmut bäumte sich gegen die Offenbarung auf. Der Protestantismus entartete in Deismus, der Deismus in Pantheismus. Dieser ist die Behauptung, dass alles Gott sei. Wenn aber alles Gott ist, dann hätte die Gleichheit im ganzen Kosmos gesiegt. Denn, wenn alles aus der Natur her göttlich ist, dann ist alles wesentlich gleich.



Reinheit und freie Liebe

      Noch ein Wort über die Keuschheit.
      Nach der katholischen Morallehre ist der Geschlechtsverkehr nur innerhalb der monogamen und unauflöslichen Ehe erlaubt. Der Stand der vollkommenen Keuschheit, der von Klerikern und Ordensleuten streng bewahrt werden muss, ist auch bei den Laien sehr lobenswert. Hierin sieht man den Sieg der Disziplin über die Gefühle.
      Der Protestantismus, der Feind aller Bremsen, begann mit der Abschaffung des priesterlichen Zölibats und der Einführung der Ehescheidung. Luther ging sogar so weit, dass er die Polygamie zuließ, wenn es sich um Prinzen handelte. Die Französische Revolution hat die Ehescheidung in die Gesetzgebung der katholischen Länder eingeführt. Marx ging noch weiter: Er wollte die Eheschließung völlig abschaffen. Das war der Paroxysmus der Auflehnung gegen jegliche Autorität, gegen jedes Gesetz, gegen jeden Zügel (1).



Wer wird siegen?

Wer wird in diesem großen Kampf siegen?
Die Wolken, die vor uns stehen, sind keinesfalls rosig. Aber wir sind durch eine unbesiegbare Gewissheit beseelt, dass die Kirche nicht untergehen wird - was offensichtlich ist, wenn man das göttliche Versprechen in Erwägung zieht -, sondern zu einem Triumph kommen wird, der noch größer sein wird als der Sieg der Christen bei Lepanto im 16. Jahrhundert.
Wie? Wann? Die Zukunft gehört Gott allein. Was aber sicher ist, ist die Tatsache, dass der Heilige Geist weiterhin bewundernswerte geistige Kräfte des Glaubens, der Reinheit, des Gehorsams und der Hingabe innerhalb der Kirche hervorruft. Mit der Hilfe der Heiligen Jungfrau Maria werden sie, bei geeigneter Gelegenheit, den christlichen Namen mit Ruhm bedecken.



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(1) Jetzt werden sogar die letzten Schranken beseitigt, die die Menschen von den schlimmsten Sünden trennten. Durch die Abtreibung, die Euthanasie und das Klonen usurpiert der Mensch das Gott einzig und allein gehörende Recht auf Verfügung über das Leben. Durch die Legalisierung der Homosexualität vergewaltigt er die Ordnung der Natur, der alle Menschen folgen müssen. Und durch die esoterischen und satanischen Rituale, die sich rasant bei unserer Jugend verbreiten, beginnt er damit, den Teufel anstelle Gottes anzubeten.

Freitag, 17. Februar 2012

Das christliches Ideal der sozialen Vollkommenheit

Plinio Corrêa de Oliveira
Nehmen wir an, die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes würde die Gebote Gottes treu beobachten. Welche Wirkung wäre hiervon auf die von ihr gebildete Gesellschaft zu erwarten? Was lässt sich von einer Uhr sagen, in der jedes Teil gemäß seiner Bestimmung und Zweck arbeitet? Oder wie steht es um ein Ganzes, dessen Teile als vollkommen bezeichnet werden dürfen?
Mechanische Vorgänge  zur Erläuterung soziokultureller Verhältnisse heranzuziehen, ist immer etwas misslich. Vergegenwärtigen wir uns deshalb unmittelbar das Bild einer von guten katholischen Christen getragenen Gesellschaft, so wie der heilige Augustinus es uns schildert: „Stellen wir uns ein Gemeinwesen vor, gebildet aus Soldaten, die in der Lehre Christi unterwiesen sind, aus (ebensolchen) Gouverneuren, Eheleuten, Eltern, Kindern, Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Königen, Richtern, Steuerzahlern, Steuereinnehmern. Sollten es die Heiden da noch wagen zu behaupten, die christliche Lehre sei gegen die Interessen des Staates gerichtet? Im Gegenteil, sie werden ohne Zögern anerkennen müssen, dass sie, treu beobachtet, ein Behüter des Staates ist“ (Epist. CXXXVIII, 5 ad Marcellinum, cap. II, 15).


An einer anderen Stelle, wo er die heilige Kirche feierlich anredet, ruft der Kirchenlehrer aus: „Du leitest und lehrst die Kinder mit Zärtlichkeit, die Jugendlichen mit Strenge, die Greisen mit Ruhe, so wie es dem jeweiligen Alter an Leib und Seele zuträglich ist. Du unterstellst die Frauen ihren Männern durch einen keuschen, treuen Gehorsam, nicht um die Leidenschaft zu befriedigen, sondern um das menschliche Geschlecht zu vermehren und die häusliche Gemeinschaft zu bilden. Du räumst den Ehemännern Autorität über ihre Gemahlinnen ein, nicht um die Schwachheit ihres Geschlechtes zu missbrauchen, sondern damit sie den Gesetzen einer aufrichtigen Liebe folgen. Du unterwirfst die Kinder ihren Eltern durch eine sanfte Autorität. Du vereinst die Bürger mit den Bürgern, die Nationen mit den Nationen, die Menschen untereinander durch die Erinnerung an die ersten Eltern nicht nur zu einer Gemeinschaft, sondern auch zu einer Art Bruderschaft. Du weisest die Könige an, über die Völker zu wachen und schreibst diesen vor, ihren Regenten gehorsam zu sein. Du lehrst mit Sorgfalt, wem Ehre, wem Liebe, wem Ehrfurcht gebührt; wem Furcht, wem Trost, wem Ermahnung oder Ermutigung zukommt; wer Zurechtweisung, Tadel oder Strafe verdient, und du lässt alle wissen, dass nicht allen alles geziemt, dass aber allen Liebe und niemandem Ungerechtigkeit zu erweisen ist“ (De moribus ecclesiae, cap. XXX, 63).
Besser kann man das Ideal der vollkommenen christlichen Gesellschaft nicht schildern. Gibt es ein Gemeinwesen, das imstande wäre, Ordnung, Harmonie, Frieden und Vollkommenheit zu höheren Formen zu entwickeln? Eine kurze Erwägung soll diesen Gedankengang abschließen: wenn heute alle Menschen die Gebote Gottes beobachten würden, wären dann nicht in kurzer Zeit alle wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme, die uns bedrücken, leicht zu lösen? Welches Ergebnis kann man dagegen für die Menschen erwarten, solange sie in ihrer gewohnten Vernachlässigung der Gebote Gottes verharren?
Hat die menschliche Gesellschaft schon jemals dieses christliche Ideal der Vollkommenheit verwirklicht? Ganz ohne Zweifel! Der unsterbliche Papst Leo XIII. sagt es uns:
„Nachdem die Erlösung bewirkt und die Kirche gegründet war, erschien auf der Welt etwas wie das Erwachen aus einer langen, alten, hoffnungslosen Apathie. Der Mensch erblickte das Licht der Wahrheit, nachdem er viele Jahrhunderte hindurch vergeblich gesucht und verlangt hatte. Vor allem wurde ihm deutlich, dass er für viel höhere und herrlichere Güter geboren war, als die vergänglichen und unzuverlässigen, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind und auf die er bisher seine Gedanken und Sorgen konzentriert hatte. Er verstand nun, dass sein ganzes Leben, das oberste Gesetz und Ziel, dem sich alles unterordnen muss, von Gott kommt, und dass wir eines Tages zu ihm zurückkehren müssen.“
„Aus dieser Quelle, über diesem Fundament gelangte der Mensch wieder zum Bewusstsein seiner eigenen Würde. Die Entdeckung, dass soziale Brüderlichkeit (sprich Nächstenliebe) notwendig ist, ließ die Herzen höher schlagen. Infolgedessen erreichten Rechte und Pflichten ihre Vollkommenheit oder befestigten sich darin. Gleichzeitig erstarkte die Tugend auf verschiedenen Gebieten in solchem Maße, wie es der Philosophie der Antike nicht vorstellbar gewesen war: Die Pläne der Menschen und ihr Verhalten nahmen eine andere Richtung. Und indem die Erkenntnis des Erlösers sich ausbreitete, und seine sittliche Kraft das Innerste der Gesellschaft durchdrang, wurden Unkenntnis und Laster des Altertums verscheucht und so jene Umwandlung bewirkt, die zur Zeit der christlichen Kultur das Angesicht der Erde vollständig erneuerte“ (Leo XIII., Enzyklika "Tametsi futura prospicientibus" vom 1. November 1900).

(aus „Der Kreuzzug des 20. Jahrhunderts“ in „Catolicismo“, Januar 1951)

Wenn die Seele nach Gott strebt, ist das Altern keine Dekadenz

Plinio Corrêa de Oliveira

Wie gewaltig täuscht sich die moderne Welt, wenn sie das Altern als eine bloße Dekadenz betrachtet. Wenn man die geistigen Werte mehr als die leiblichen zu schätzen weiß, bedeutet das Altern ein Wachsen in dem, was im Menschen das edelste ist, die Seele. Obwohl das alt werden die Dekadenz des Körpers mit sich bringt, der nur das Materielle Element der menschlichen Person ausmacht. Und welch eine Dekadenz! Es kann gut sein, das der Leib an Schönheit und an Kraft verliert, aber er wird bereichert mit der Transparenz einer Seele, die sich im Laufe eines ganzen Lebens zu wachsen und zu entwickeln wusste. Transparenz, die die erhabenste Schönheit darstellt, die das menschliche Antlitz auszudrücken vermag.

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Die hl. Maria Eufrasia Pelletier wurde 1798 in der Vendée, Frankreich, geboren. Sie gründete eine Kongregation von Lehrerinnen und starb 1868. Ihr Fest wird am 24. April gefeiert.

Nichts dessen, was Anmut bedeutet, hat ihr in der Jugend gefehlt: Die Vollkommenheit der Gesichtszüge, die Schönheit der Augen und der Haut, die Vornehmheit der Physiognomie, der Adel in der Haltung, die Frische und die Grazie der Jugend. Mehr noch, der Glanz einer strahlenden, logischen, kräftigen, reinen Seele, kam stark in ihrem Antlitz zum Ausdruck. Sie ist eigentlich der prächtige Typ einer christlichen jungen Frau.


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Nun sehen wir sie im Alter. Vom Reiz der früheren Jahre blieb nur ein vages Parfüm. Aber eine andere, höhere Schönheit strahlt aus diesem bewundernswerten Antlitz. Der Blick hat an Tiefe gewonnen; eine edle und unerschütterliche Gelassenheit scheint in ihm etwas von dem erhabenen und endgültigen Adel der Seligen in der himmlischen Glorie anzukündigen! In ihrem Gesicht haben die harten Kämpfe des geistigen und apostolischen Lebens einer Heiligen ihre Spuren hinterlassen. Es hat etwas Starkes, Vollkommenes, Unveränderliches erreicht: Es ist die Reife im schönsten Sinn des Wortes. Der Mund ist eine gerade, dünne, ausdrucksvolle Linie, die das typische Merkmal eines eisernen Charakters darstellt. Ein großer Friede, eine Güte ohne jegliche romantische Schwärmerei und Illusion, geprägt durch einen gewissen Rest der vergangenen Schönheit, strahlen noch von dieser Physiognomie aus.

Der Leib ist der Dekadenz verfallen, aber die Seele ist dermaßen gewachsen, dass sie schon ganz in Gott ist, was die Worte des hl. Augustinus in Erinnerung ruft: „Unser Herz, o Herr, wurde für Dich geschaffen und es findet erst dann Frieden, wenn es ruht in Dir.“

Wer würde es wagen zu behaupten, dass das Altern der hl. Maria Eufrasia gleich einem Prozess der Dekadenz war?


(freie Übersetzung aus „Catolicismo“, November 1952)

Donnerstag, 16. Februar 2012

Tradition, Familie, Privateigentum

von Plinio Corrêa de Oliveira

Wenn ich mich nicht irre, stammt von Emile Faguet folgende Erzählung: es gab einmal einen jungen Mann, der durch einen schweren Liebeskummer entzweit war. Er liebte seine anmutige Frau aus ganzem Herzen. Zugleich zollte er seiner Mutter große Verehrung und tiefen Respekt. Jedoch, die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter war sehr gespannt und aus bloßem Neid entwickelte die schöne aber böse junge Frau einen unbegründeten Haß gegen die alte und verehrungswürdige Dame. Eines Tages zwang die junge Frau ihren Gatten: er sollte nach Hause zu seiner Mutter gehen, sie töten, ihr Herz ausreißen und es mitbringen. Wenn er dies nicht täte, würde seine Frau ihn verlassen. Nach großem Zögern gab der junge Mann nach und tötete seine Mutter, die ihm das Leben schenkte. Er riß das Herz aus ihrer Brust, wickelte es in ein Tuch und rannte nach Hause. Auf dem Heimweg stolperte er und es fiel auf den Boden. Da hörte er eine Stimme, die voller Sorge und Zärtlichkeit aus dem mütterlichen Herz kam: “Hast du dich verletzt, mein Sohn?”

Mit dieser erfundenen Geschichte wollte der Autor hervorheben, daß die mütterliche Liebe das Erhabenste und Berührendste ist. Ihrer vollkommenen Hingabe, ihrer totalen Unentgeltlichkeit und ihrer Fähigkeit zum Verzeihen sind keine Grenzen gesetzt.. Die Mutter liebt ihren Sohn, wenn er gut ist. Jedoch, sie liebt ihn nicht nur deshalb, weil er gut ist, sondern auch wenn er sogar ein böser Mensch ist. Sie liebt ihn ganz einfach, weil er Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blut ist. Sie liebt ihn freigiebig, ohne irgendeine Dankbarkeit zu erwarten. Sie liebt ihn in der Wiege, wenn er die empfangene Liebe nicht verdienen kann. Sie liebt ihn im Laufe seines Lebens, wenn er Glück und Ruhm erlangt oder sich in den Abgrund des Unglücks und sogar des Verbrechens stürzt. Er ist ihr Sohn und damit ist alles gesagt.

Diese Liebe, die der Vernunft nicht widerspricht, ist in den Eltern auch etwas Instinktives. Und als solche hat sie etwas gemeinsam mit der Liebe der Tiere zu ihren Jungen, die ihnen die Vorsehung gab. Um die Erhabenheit dieses Instinkts zu ermessen, genügt es in Erwägung zu ziehen, daß die zärtlichste, die reinste, die höchste und die herrlichste Liebe, die je auf Erden existierte - die Liebe des Menschensohnes zu den Menschen - von Jesus mit dem Instinkt der Tiere verglichen wurde. Vor seinem Leiden und Tod am Kreuz weinte Jesus über Jerusalem, indem er ausrief: “Jerusalem, Jerusalem, ... wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt!” (Mt, 23, 37)


Ohne diese Liebe gibt es keine Vater- oder Mutterschaft, die dieses Namens würdig ist. Wer diese Liebe in ihrer erhabenen Freigebigkeit verneint, verneint auch die Familie. Es ist diese Liebe, die die Eltern dazu führt, ihre eigenen Kinder mehr als andere Kinder zu lieben. Aus diesem Grund wünschen sie innigst, ihren Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen, damit diese ein stabiles Leben führen und sich eines moralen und sozialen Aufstiegs erfreuen können. Dafür arbeiten, kämpfen und sparen die Eltern. Sie werden dazu geführt durch ihren Instinkt, ihre Vernunft und sogar durch die Regel des Glaubens. Den Kindern eine Erbschaft zu hinterlassen, ist ein natürlicher Wunsch der Eltern. Die Rechtmäßigkeit dieses Wunsches zu verneinen käme der Behauptung gleich, daß den Eltern gegenüber, die Kinder und ein Fremder gleichen Rang haben. Das würde bedeuten, die Familie zu vernichten.

Ja, das Erbe ist eine Institution, in der Familie und Privateigentum zusammentreffen.
Und nicht nur die Familie und das Privateigentum, sondern auch die Tradition. In der Tat, unter den vielfältigen Formen von Erbschaft ist die des Geldes nicht die kostbarste. Es ist offensichtlich, daß die Erbanlagen in einem Geschlecht, sei es vom Adel oder vom Volk, oft gewisse optische oder seelische Züge prägen. Diese Züge stellen einen Zusammenhang zwischen den Generationen dar und beweisen, daß die Ahnen gewissermaßen in den nachfolgenden Generationen weiterleben. Es obliegt der Familie, die sich ihrer Talente bewußt ist, im Laufe der Generationen den Stil des öffentlichen und privaten Lebens zu verfeinern, wodurch der ursprüngliche Reichtum der familiären Merkmale seinen wahrsten und gerechtesten Ausdruck erreicht. Dieses im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten verwirklichte Vorhaben ist die Tradition. Entweder eine Familie bringt ihre eigene Tradition als eine Schule des Seins, des Wirkens, des Fortschreitens und des Dienens für das Wohl der Heimat und der Christenheit hervor oder sie läuft Gefahr, Menschen zu erzeugen, die ihr eigenes Sein nicht definieren und sich nicht stabil und logisch in eine soziale Gruppe einfügen können.


Was ist eigentlich der Wert einen großen Reichtum zu erben, wenn man von den Eltern nicht eine Tradition, das heißt eine moralische und kulturelle Erbschaft – wenigstens im keimenden Zustand, wenn es sich um jüngere Familien handelt – erhält? Selbstverständlich eine Tradition, die keine beharrliche Vergangenheit ist, sondern das Leben, das ein Samenkorn von der ihm einhüllenden Frucht empfängt. Das bedeutet wiederum die Fähigkeit, zu keimen und etwas Neues hervorzubringen, das nicht das Gegenteil des Alten, sondern seine harmonische und bereichernde Entwicklung ist. So gesehen verbindet sich Tradition mit Familie und Privateigentum harmonisch bei der Bildung der Erbschaft und der familiären Fortdauer.


Dieses Prinzip gehört zum gesunden Menschenverstand. Und es ist so, weil die Dankbarkeit vererbt wird. Sie führt uns dazu, für die Nachkommenschaft der Wohltäter das zu tun, worum die Wohltäter uns bitten würden. Diesem Gesetz obliegen nicht nur die Personen, sondern auch die Staaten.


Es wäre ein krasser Widerspruch, wenn ein Land aus Dankbarkeit gegenüber einem großen Wohltäter dessen Federhalter, Brille oder Hausschuhe in einem Museum aufbewahren, aber zugleich diejenigen, das heißt seine Nachkommenschaft, die er mehr als seine Hausschuhe geliebt hatte, der Gleichgültigkeit, Vergessenheit und Armut preisgeben würde.



Es ist deshalb leicht zu erklären, warum der gesunde Menschenverstand die Nachkommen der großen Männer mit Hochachtung behandelt – auch wenn sie gewöhnliche Menschen sind. Aus diesem Grund haben z.B. in den Vereinigten Staaten alle Nachkommen von General Lafayette, der für die Unabhängigkeit kämpfte, das Recht auf die amerikanische Staatsangehörigkeit, egal in welchem Land sie geboren wurden. Und aus demselben Grund gab es während des Spanischen Bürgerkrieges ein schönes Ereignis: Die Kommunisten hatten den Herzog von Veraguas, den letzten Nachkommen von Christoph Kolumbus gefangengenommen und wollten ihn erschießen. Was geschah? Alle Republiken Lateinamerikas hatten einstimmig um seine Begnadigung gebeten. Denn sie konnten nicht mit Gleichgültigkeit der Erlöschung der Nachkommenschaft des heldenhaften Entdeckers Amerikas auf Erden zusehen.

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Diese sind die logischen Schlussfolgerungen des Bestehens der Institution der Familie und ihre Wiederspiegelung in Tradition und Privateigentum.

Unbillige und hassenswerte Privilegien? Nein. Sofern das Prinzip beachtet wird, nach dem die Erblichkeit weder irgendein Verbrechen zudecken, noch den Aufstieg neuer Talente verhindern darf, handelt es sich hier einfach um Gerechtigkeit.