Plinio Corrêa de Oliveira
Den ganzen
Kampf der Kirche gegen die Liberalen im 19. Jahrhundert kann man, unter einem
gewissen Gesichtspunkt, in einigen Zeilen zusammenfassen. In ihrer Angst über
die Ausschreitungen der öffentlichen Macht, verminderten sie dermaßen die
Zuständigkeiten der Autorität des Staates, dass dieser fast machtlos wurde
nicht nur in der Verhinderung von Gesetzeswidrigkeiten, sondern sogar in der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das ist ein Übel, lehrte die
Kirche. Niemand hat das Recht, das Böse zu tun. Jede politische Verfassung
also, die dem Staat daran hindert, seine Macht auszuüben, um sofort und
vollständig das Böse zu unterbinden, ist von Grund auf falsch. Die Tatsachen
beweisen mit tragischer Beredsamkeit die Lehre der Kirche. Man braucht nur die
politischen Verfassungen der meisten westlichen Länder des vergangenen und auch
noch der ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zu lesen: alle fesselten
dermaßen die öffentliche Hand, so dass diese, in ihrer Ohnmacht die steigenden
Anarchiebewegungen zu stoppen, keine andere Wahl hatte, als den langsamen und
unaufhaltsamen Untergang der sozialen Ordnung mit verschränkten Armen
zuzusehen. Geht man genauer der Ursache dieses Fehlers nach, erfährt man, dass
er der Vorstellung zugrunde liegt, es sei unmöglich den Staat so gut zu
organisieren, dass er das Böse bekämpft, ohne zugleich die Freiheit zu opfern,
das Gute zu tun. Basiert auf dieser Ur-Behauptung, ließen die Liberalen, indem
sie die Anarchie dem Despotismus vorzogen, die öffentlichen Interessen den Bach
des Liberalismus und des Zerfalls des gesellschaftlichen Lebens herunterlaufen.
Ich glaube
man hat nie so richtig die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt, der ja der
Nerv der zwischen Katholiken und Liberalen aufgeworfenen Fragen ist. Viele gibt
es, die da denken, dass vor der unvermeidlichen Alternative zwischen einem
Übermaß an Freiheit oder dem Missbrauch der Autorität, der Liberale auf der
Seite der ersten und die Kirche auf der zweiten stehen.
In der Tat
ist die These der Kirche eine andere. Sie bestreitet den wissenschaftlichen
Wert der Alternative Anarchie x Despotismus. Wenn Gott schon mit so wunderbarer
Weisheit die Ordnung des Universums gestaltet hat, was die leblosen und
unvernünftigen Wesen angeht, wäre es monströs sich vorzustellen, dass Er auf
unvollkommene Weise die dem Menschen entsprechende Ordnung bestimmt hätte. Es
muss im Menschen potentielle Eigenschaften geben, die ihn befähigen eine viel
vollkommenere Gesellschaft zu bilden als die, die man unter unvernünftigen
Wesen beobachten kann, wie zum Beispiel bei den Bienen und Ameisen. Wenn dem
nicht so wäre, wäre der Mensch nicht das Meisterwerk der göttlichen Schöpfung.
Demnach ist
es unmöglich, dass der normale Zustand der menschlichen Gesellschaft nur in
einer dieser tragischen Alternativen zu finden sei: entweder der Anarchie
zuzusteuern oder unter der Last des Despotismus zu schmachten. Es muss die
Möglichkeit geben, die menschliche Gesellschaft normal und dauerhaft in einer
ausgeglichenen Weise zu gestalten, die zu keinen der beiden Extreme führt.
Es ist gerade
deswegen, dass die Kirche die Liberalen verurteilt, die den Weg der Anarchie
bevorzugen. Sie weigert sich zwischen den zwei Wegen des Unheils zu wählen:
zwischen den Abgründen, die sich auf beiden Seiten öffnen, weist sie der
Menschheit den richtigen Weg, der weder zur Anarchie noch zum Despotismus
führt. Es ist der Weg der christlichen Ordnung.
* * *
Über
Jahrzehnte hinweg versuchte der Liberalismus die Kirche zu täuschen. Das
liberale Monstrum hatte tausend Gesichter für jeden Geschmack. Eines lächelte
der Kirche zu, um ihre naiven Kinder zu verlocken und zu blenden. Ein anderes
schaute die Kirche mit einer besorgten und verschlossenen Miene an, um die
ängstlichen Katholiken zu lähmen. Ein weiteres fixierte die Kirche mit einem
argwöhnischen, langweiligen, schlecht gelaunten Blick, wie der verlorene Sohn
seinen Blick über das väterliche Haus schweifen ließ, als er sich von seinem
Vater verabschiedete: ein reines Manöver, um die Reaktion der echten Katholiken
zu entmutigen, die einen Massenabfall der liberalen Katholiken, ihrer Brüder im
Glauben, befürchteten. Doch mit all diesem Gesagten, ist die Beschreibung der
Hydra noch nicht erschöpft. In Tausend anderen Köpfen mit Tausend verschiedenen
Aspekten wie Anti-Klerikalismus, Freidenkertum, Freimaurerei und Anarchie,
hetzte sie zum Angriff auf die Kirchen, zur Schändung der Tabernakel, zur
Profanierung der Heiligenbilder, zur Ermordung der Priester und der
gottgeweihten Jungfrauen, der Könige und der Staatsregierenden einen Haufen von
Nihilisten, Karbonariern, Banditen, die seit 1789 bis in unsere Tage nicht
aufhörten, hier und da tätig zu sein.
Es ist klar, dass, gegenüber so törichten
Handlungen im liberalen Lager, eine entsprechend große Vielfalt von Tendenzen
im katholischen Lager, über die Art, die Hydra zu betrachten und zu bekämpfen,
hervorkam.
Nur wenige
nahmen alle ihre Gesichter wahr. Und von diesen verstanden noch weniger, dass
der vielfältige Ausdruck dieser Gesichter nicht die Äußerung einer inneren
Unentschlossenheit der Tendenzen der großen Hydra war. Alles, was Lächeln war,
war Lüge, und alles, was Lästerung war, war Wahrheit. Dass, obgleich seiner
anscheinenden Unsicherheiten und Widersprüchen, der Liberalismus logisch,
unnachgiebig, unveränderlich in seinem Schreiten in Richtung Anarchie und
Atheismus war.
Den vielen
Gesichtern mussten ebenso viele Sprachen entsprechen. Nicht alles, was der
Liberalismus vorschlug, war unbedingt in sich verwerflich auf der Ebene der
reinen Lehre.
So war es
möglich einigen Forderungen des Liberalismus zuzustimmen, ohne sich unbedingt
zu einer von der Kirche verurteilten Lehre zu bekennen.
Was tun! Dem
zuzustimmen, was möglich war, um im Nachhinein das Raubtier zu zähmen? Oder es
sofort, kräftig und ohne zu zögern, anzugreifen?
Etwas von
allem wurde versucht. Am Ende, betrachtet man die Entwicklung Europas im 19. Jahrhundert,
springt nur eine einzige Wahrheit ins Auge. Trotz aller Versuche einer
katholischen Mitarbeit eroberte die liberale Bewegung Europa und verwirklichte
ihre wichtigsten Ziele: sie dechristianisierte, laizisierte, zersetzte die
Familie und den Staat, und zerrte die gegenwärtige Welt über einen Weg, auf dem
sie sich nur einige Finger breit vor der Anarchie befindet.
Aus der
plötzlichen Panik vor dieser Anarchie entsprang die treibende Kraft, die die
Gegenreaktion hervorrief: der Faschismus und der Nazismus.
* * *
Vor der
falschen Alternative „Despotismus-Anarchie“ bevorzugten die Totalitären aller
Couleur den Despotismus, als Reaktion gegen die Anarchie.
Haben sie
richtig gewählt? Ohne Zweifel nein. Weil sie sich nicht von der falschen
Alternative befreien konnten. Sie blieben in ihr und, indem sie dem
Liberalismus flohen, rutschten sie vom Scheitelpunkt des Dilemmas in die Tiefen
des Abgrunds. Sie haben nicht verstanden, dass es nicht der Fall war, zwischen
zwei Abgründen einen zu wählen. Sondern den Weg suchen, der nicht in den
Abgrund führt, sondern zum Himmel.
So führte uns
die Reaktion gegen die Anarchie, anstatt zur christlichen Zivilisation, zu
einem anderen Unglück: zum Moloch-Staat.
Dies sei hier
gesagt, um gut zu verstehen, dass es eine gemeinsame Wurzel zwischen
Liberalismus und Despotismus gibt. Welchem Despotismus? Die Fragen nach der
politischen Farbe interessiert nicht. Schwenkt er eine braune, rote oder
schwarze Fahne, er ist immer der Despotismus. Und sei dieser Despotismus auch sanft, gütig, weich wie der
rosafarbene Despotismus, den die Tory-Regierung in England einführen will,
bleibt er auch immer Despotismus.
Der
Sozialismus heute, so wie der Nazismus gestern, und vorgestern der Liberalismus,
zeigt Tausend Gesichter, lächelt mit einem der Kirche zu, mit dem anderen droht
er ihr und redet gegen sie mit noch einem anderen.
Gegen diesen
neuen Sozialismus, wie einst gegen den Liberalismus, kann die Haltung der
Katholiken auf der ganzen Welt, aber vor allem in Europa, nur eine sein:
entschiedener, freimütiger, unnachgiebiger, furchtloser Kampf.
Der
Sozialismus ist kein Raubtier, das gezähmt und domestiziert werden kann. Er ist
ein apokalyptisches Monster, das die Falschheit des Fuchses und die Gewalt des
Tigers vereint. Vergessen wir das nicht, andernfalls werden es die Fakten uns
auf sehr schmerzliche Weise lehren…
Freie Übersetzung aus „O Legionário“ Nr. 723, 16.6.1946
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