Mittwoch, 27. Oktober 2021

Der hl. Josef und das Marianische Ideal



von Plinio Corrêa de Oliveira

Die religiöse Unwissenheit, in der wir leben, hat neben anderen schädlichen Auswirkungen dazu geführt, dass die wahre Bedeutung einiger kirchlicher Vorschriften völlig entstellt wurde, die, wenn sie missverstanden werden, völlig unfruchtbar sind, während sie, wenn sie richtig verstanden werden, fruchtbar sind für Gnaden und Wohltaten jeder Art.

Dies geschieht zum Beispiel bezüglich der Verehrung des hl. Josef, der von der Kirche als Vorbild für Familienoberhäupter und Arbeiter vorgeschlagen wird, und auch aufgrund des unermesslichen Reichtums an Tugenden, mit denen er durch die Gnade bereichert wurde, das ideale Vorbild für alle großen katholischen Tugenden ist.

Die meisten Katholiken ziehen jedoch nicht ernsthaft in Erwägung, sich den heiligen Josef zum Vorbild zu nehmen. Einerseits scheint die unermessliche Heiligkeit des Nährvaters Jesu, den die Kirche mit höchstem Verehrungsgrad (Hiperdulia) verehrt, ein absolut unerreichbares Ideal zu sein. Andererseits entfernt uns die menschliche Schwäche, von der wir uns, getrieben von allerlei Neigungen, erfüllt fühlen, so weit von jedem geistlichen Ideal, dass wir meinen, schon so viel getan zu haben, indem wir uns vom Joch der Todsünde und der lässlichen Sünde befreit haben, und wir leben ein unbewegliches geistliches Leben, das relativ mild ist, da es sich auf die Erhaltung des gewonnenen Bodens beschränkt, aber für die Kirche und für die größere Ehre Gottes völlig unfruchtbar ist.

Die Kirche beabsichtigt gewiss nicht, dass ihre Kinder an Herrlichkeit und Tugend demjenigen gleichgestellt werden, der nach der heiligsten Jungfrau Maria, der höchste Vertreter der Tugend in der Menschheit ist.

Andererseits will sie aber keineswegs, dass wir unseren geistlichen Horizont auf ein banales frommes Leben beschränken, belastet von der irrigen Vorstellung, dass es ein Mangel an Demut ist, nach der Heiligkeit zu streben, die im Genie des heiligen Thomas, im Kampfgeist des heiligen Ignatius, in der geistigen Sammlung der heiligen Teresa und in der Nächstenliebe des heiligen Franziskus aufleuchtet.

Die Kirche entlarvt diese falsche Demut, indem sie darauf hinweist, dass sie entweder ein fadenscheiniger Vorwand für geistliche Feigheit oder eine stolze Auffassung von Tugend ist, die mehr als Frucht menschlicher Anstrengung denn als Ergebnis der Barmherzigkeit Gottes angesehen wird. Und gleichzeitig nutzt sie das Beispiel ihrer großen Heiligen, um „unsere Herzen zu erheben“ und uns darauf hinzuweisen, dass das einzige wirkliche Anliegen dieses Lebens, das einzige wirklich wichtige Problem unserer Existenz, die Erlangung jener geistigen Vollkommenheit ist, die das einzige Erbe sein wird, das wir trotz finanzieller Krisen, sozialer Umwälzungen und der Zerbrechlichkeit der menschlichen Dinge bewahren werden, um schließlich mit ihm die Schwelle der Ewigkeit zu überschreiten.

Der große heilige Josef ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür.

Er wurde in eine illustre Familie hineingeboren, führte aber eine verborgene Existenz, die ihn im Gegensatz zum Glanz seines Namens in die untersten Schichten der Gesellschaft seiner Zeit stellte.

Ihm fehlten die natürlichen Gaben, die Menschen groß machen. Er hat weder Armeen noch Untertanen, um den Ruhm seines Namens weithin zu tragen. Er hat kein Geld, mit dem er in hohe Positionen aufsteigen könnte. Er lebt bescheiden und verachtet im Schatten des majestätischen Tempels, den David gebaut hatte, und in dem Land, in dem die Weisheit Salomos herrschte.

Doch es leuchtet in ihm die Flamme der Nächstenliebe. Eine intensive Liebe zu Gott, eine bewundernswerte Spiritualität und ein inneres Leben machten seine Seele zum Objekt der Gunst der Heiligen Dreifaltigkeit, und dieser bescheidene Mann wurde berufen, direkt an den Ereignissen teilzuhaben, die zu den bemerkenswertesten Ereignissen der Weltgeschichte führen sollten.

Die Erlösung der Welt, die das zentrale Ereignis unserer Geschichte ist, hat den Untergang des Heidentums, den Aufstieg und den Triumph der katholischen Kirche, die Errichtung einer Zivilisation, die auf völlig neuen Vorstellungen von Familie, Staat, Individuum und Religion beruht, bestimmt, die den Ausgangspunkt und die Ursache des großen Fortschritts darstellen, den wir heute bewundern.

Die heidnische Familie, die durch den Kontakt mit den Sakramenten der Kirche umgewandelt und übernatürlich gemacht wurde, verwandelte sich in einen bewundernswerten Ort der geistigen Vervollkommnung und eine strenge Schule der Disziplin für die niederen Instinkte.

Der heidnische Staat, der durch den Katholizismus in seinen Grundfesten umgestaltet wurde, war nicht mehr das Privileg von Plutokraten oder Demagogen, sondern vor allem ein bewundernswertes Mittel zur gerechten Verteilung von Gerechtigkeit und Schutz für alle Menschen.

Der Mensch, der im Heidentum eine Beute seiner Leidenschaften war, sah vor sich das bewundernswerte Ideal der geistigen Vollkommenheit, das der Gottmensch verkündete, und der mittelalterliche Mensch, der von den Sybariten der Antike abstammte, verwandelte sich in den Kreuzfahrer, den Asketen oder den christlichen Philosophen.

Der Religion ist es schließlich gelungen, der Welt mit ihren Sakramenten, mit der Gnade, deren Träger sie ist, und mit dem bewundernswerten hierarchischen Apostolat der Kirche eine Kontinuität des heiligenden Wirkens zu bringen, die die Säule der Zivilisation war und die auch heute noch das einzige Hindernis gegen die Invasion des Kommunismus ist, wie sie es gegen die Invasionen der Barbaren oder der Moslems war.

All diese glorreichen Ereignisse haben ihren Ursprung in der Erlösung. Der heilige Josef hat durch die bewundernswerte Übereinstimmung mit der Gnade, durch die er sich auszeichnete, in hervorragender Weise am göttlichen Erlösungsplan mitgewirkt. Und als solcher verdient er einen großen Anteil an der Herrlichkeit, die dem göttlichen Erlöser zusteht, durch die Unermesslichkeit der Wohltaten, mit denen er uns beschenkt hat.

Wir sehen also die bewundernswerte Fruchtbarkeit eines Lebens, das durch die natürlichen Umstände eher unfruchtbar geworden war. Wir sehen die ungeheure Handlungsfähigkeit des Heiligen, der in Besinnung und Demut an viel wichtigeren Ereignissen direkt mitgewirkt hat und an der gesamten Menschheitsgeschichte einen unschätzbareren Anteil hatte als Alexander mit seinen Heeren, Kant mit seinem arroganten Wissen oder Machiavelli mit seiner listigen und amoralischen Diplomatie.

Das innere Leben also. Ein intensives inneres Leben, beständig, grenzenlos ehrgeizig, im geistlichen Sinne des Wortes, das ist die große Lehre, die uns das Fest des heiligen Josef hinterlässt.

Als marianische Sodalen, die eng mit der Gottesmutter verbunden sind, wie es der heilige Josef war, sollte uns die Größe der Lektion nicht von der Knappheit unserer Kräfte entmutigen, denn wir sollten als Ermutigung ausrufen: Omnia possum in eo qui me confortat (Ich vermag alles in dem, der mich stärkt).

 

Aus dem Portugiesischen übersetzt mit Hilfe von DeepL Übersetzer (kostenlose Version) in “Legionário” Nr. 116, vom 26. März 1933

© Nachdruck der deutschen Fassung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

Der hl. Josef und das Marianische Ideal erschien erstmals in deutscher Sprache in www.p-c-o.blogspot.com

 

Montag, 18. Oktober 2021

Das Reich Christi nach der Zeit der Revolution


    Da wir morgen das Fest Christ König feiern, wollen wir etwas über die irdische Realität der königlichen Herrschaft Jesu Christi sagen, damit wir sein himmlisches Königreich besser kennen lernen. Denn, um seine himmlische Herrschaft besser kennenzulernen, müssen wir uns ein wenig vorstellen, was auf Erden die Herrschaft Christi ist, dann können wir uns besser vorstellen, was die herrliche und ewige Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus im Himmel ist.

    Nun aber, da Gott das Falsche erlaubt hat, damit wir das Richtige kennen lernen, werden wir erstmal das Gegenteil der Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus betrachten, um dann eine richtige Vorstellung davon haben, was die wahre Herrschaft Christi auf Erden ist, und auch eine Vorstellung, was die glorreiche Herrschaft Christi im Himmel ist.

    Wir, als Kinder der Gegenrevolution, reiben uns fortwährend an allen Arten von Unordnung, an allen Arten von Wertumkehrung, an allen Arten von Schande und Unsittlichkeiten, die diese Welt ausmachen, voran die westliche Welt, die heue bereits fast vollständig von der Revolution beherrscht wird.

    Aber wir haben nicht einmal im Fernsten eine Ahnung, was das Gegenteil der Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus ist, nämlich die kommunistische Welt. Was ist die Traurigkeit, die Unterdrückung, der Materialismus, die Unmoral, das Alltägliche, die Trivialität der kommunistischen Welt. Ein kleines Ereignis, an das ich mich hier im Moment erinnere, zeigt dies gut. Ein armenischer Jesuitenpater, Agagianian, der lange Zeit in kommunistischen Gefängnissen inhaftiert war, erzählt, dass nach zehn Jahren Gefängnis die Kommunisten entschlossen haben, ihn freizulassen. So wurden er und einige andere Häftlinge mit dem Zug von Moskau über Budapest nach Wien eskortiert. Und, dass während der ganzen Reise der Zug mit heruntergelassenen Vorhängen fuhr. – Was etwas von der düsteren kommunistischen Herrschaft zeugt. – Ohne definierten Grund fahren sie mit runtergelassenen Vorhängen. Als die Zeit verging, merkte er in einem bestimmten Moment, dass der Zug in Budapest angekommen war; sie stiegen aus, um etwas zu essen, stiegen wieder ein und der Zug fuhr weiter. Natürlich begann er sich zu fragen, wann er die Grenze überqueren würde, weil der Moment des Grenzübertritts die große Erwartung war, denn damit war auch die Gefahr vorbei. Da erscheint die Möglichkeit, freies Land zu betreten und an der ersten Station zu fliehen, auszusteigen und Gefahren zu entkommen.

    Er sagte, dass sie sich bei heruntergelassenen Vorhängen jedoch sehr sicher fühlten, als sie die Grenze überschritten hatten. In einem bestimmten Moment hielt der Zug an einem kleinen Bahnhof, und sie hörten Menschen Lachen; von dem Moment an, als sie das Lachen hörten, wussten sie, dass sie die westliche Welt erreicht hatten. Denn während der ganzen Reise gab es keine Anzeichen von Freude, Zufriedenheit, gar nichts; es herrschte eine Strenge, ein grimmiges, finsteres, böswilliges Etwas, eine Atmosphäre der Qual eines Konzentrationslagers, der Tyrannei; und das alles wegen der Umkehrung der Werte, die die Herrschaft des Kommunismus, das Reich des Kommunismus direkt charakterisiert.

    Eine mir bekannte Person, die auch nach Russland reiste sagte, dass sie, als sie in München in das tschechoslowakische Flugzeug einstieg, um in die kommunistische Welt fliegen, sie sofort feststellte, dass sie sich in der kommunistischen Welt befand; denn schon die Ausstattung des Flugzeugs war ordinär, die Polsterung ordinär, der Service war schrecklich, alle mit finsteren Gesichtern, alle waren brummig; sie fühlte sich herausgerissen aus dem normalen Leben und lebendig in ein Konzentrationslager gesteckt.

    Das ist die Welt, auf die wir zusteuern. Das sind die Schrecken, die uns bevorstehen.

    Wenn wir eine Vorstellung haben wollen, was das entgegengesetzte Extrem des Reiches Jesu Christi ist, dann können wir uns eine völlig futuristische, moderne Stadt vorstellen; mit moderner Kunst, mit allem, was modern ist; organisiert nach den tyrannischsten Methoden der modernen Technik; Freudenlos, vollkommener Materialismus, totaler Unmoral und freier Liebe; ohne jegliche Hoffnung auf den Himmel, ohne Achtung der Werte des Geistes, wo selbst die Obrigkeiten keinen Anstand und keine Würde zeigt.

    So haben wir eine Vorstellung von der Welt, auf die wir zusteuern, und es wird uns klarer bewusst, dass wir uns in einer Zwischensituation befinden, in einer Situation, in der die letzten Reste der Herrschaft des Königtums Christi verschwinden; und dass die klaren und eklatanten Äußerrungen der Herrschaft des Teufels schon sichtbar werden. Während das eine verschwindet, erscheint etwas anderes.

    So können  wir verstehen, welches die gegenteilige Freude sein wird. Denn wenn die Herrschaft des Teufels so schrecklich ist und wir sie bereits um uns herum sehen, dann verstehen wir, wie groß die Freude sein wird, die wir in dem gesegneten Moment haben werden, wenn diese Situation durch das Eingreifen Gottes beendet wird.

    Dann werden wir verstehen, dass die Herrschaft der Gottesmutter, das Reich Mariens, begonnen und dass sich alles völlig verändert hat. Die Tugend wird verherrlicht, die Rechtgläubigkeit wird von der ganzen Welt geachtet werden; alle Gesetze, alle Institutionen, alle Bräuche werden den Geist der katholischen Kirche widerspiegeln; die ganze Art und Weise, wie die Menschen denken und reflektieren, wird mit dem Geist der katholischen Kirche übereinstimmen. Alles, was bewundert wird, wird gut und wahr sein; alles, was geschmäht wird, wird Irrtum und böse sein. Und wir werden dann sehen, wie alle Menschen, alle Werte, alle Dinge in ihre richtige Ordnung gebracht werden und so Gott die Ehre geben, der der wahre Urheber dieser Ordnung ist.

    Wenn wir dann das Ende unserer Tage erreichen mit der Freude, trotz im Reich des Teufels geboren worden zu sein, für das Kommen des Reiches Christi gearbeitet zu haben, auf diese wiederhergestellte Ordnung blicken und sagen können, dass sie ein Werk Gottes war, das durch unsere Hände vollbracht wurde. Wenn wir unsere Augen schließen, werden wir eine genaue Vorstellung vom Reich Christi im Himmel haben können.

    So werden wir eine Vorstellung haben, was diese zweite Morgendämmerung der Welt für uns bedeuten wird. Die erste Morgendämmerung ist das Ende dieses Zeitalters, das Ende Babylons und der Eintritt in das Reich Christi. Und die zweite Morgendämmerung wird für uns sein, wenn wir unsere Augen schließen und die Herrschaft Christi sich für unsere Seele durch die Gottesmutter im Himmel öffnet. Dann wird alles, was Symbole waren, alles, was Erscheinungen waren, vergangen sein. Wir werden Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Wir werden die Gottesmutter von Angesicht zu Angesicht sehen. Wir werden die Realität der Seelen auch von Angesicht zu Angesicht sehen.

    Dann werden wir auch indirekt und im Superlativ die ganze himmlische Ordnung verstehen, die das Vorbild für die Ordnung war, die wir auf Erden geliebt haben. Dann werden wir in dieser zweiten Bestätigung der Herrschaft Christi wirklich den Preis dafür bekommen, dass wir so hart für die Herrschaft Christi auf Erden gekämpft haben.

Bitten wir die Gottesmutter, dass sie uns diese Überzeugungen mit immer größerer Kraft schenke, denn, wie ich neulich sagte, es werden böse und schreckliche Tage kommen, und es ist immer mehr diese Hoffnung, die uns ermutigen wird; und wir müssen immer mehr von dieser Hoffnung leben. Und unsere große Hoffnung ist die Errichtung des Reiches Christi durch das Reich Mariens hier auf Erden, und so werden wir das Reich Christi erreichen, das durch Maria im Himmel herrscht. Dies ist also die Überlegung, für den morgigen Tag. 

 

Aus dem Portugiesischen mit Hilfe von Deepl.com Übersetzer von dem Vortrag von Plinio Corrêa de Oliveira am 20. Oktober 1964 „Novena de Cristo Rei e a Bagarre“. Abschrift und Übersetzung wurden vom Autor nicht revidiert.

© Nachdruck der deutschen Fassung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

Das Reich Christi nach der Zeit der Revolution erschien erstmals in deutscher Sprache
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Freitag, 8. Oktober 2021

„Quid est veritas?“

 

    Was ist Wahrheit?

    Gewisse prähistorische Gelehrte gehen davon aus, dass sie anhand eines einfachen Knochens das Skelett vieler Jahrhunderte toter Tiere rekonstruieren können.

    Ich weiß nicht, ob Versuche, den Körper vorsintflutlicher Tiere anhand nur eines Knochens zu rekonstruieren, von den umsichtigsten Wissenschaftlern akzeptiert werden, und ich bezweifle sehr, dass diese kühnen Versuche eine große Anzahl von Bewunderern haben.

    Wir sind jedoch oft versucht, Forscher von Gegenständen aus der Vorgeschichte im psychologischen Bereich nachzuahmen. Tatsächlich sind wir oft versucht, eine ganze Mentalität vor unseren Augen zu rekonstruieren, einfach aus einem Satz, einem Spruch.

    Selbst wenn wir nicht die evangelischen Erzählungen hätten, um uns die Windungen der Intelligenz und des Charakters des Pilatus beredt zu zeigen, könnten wir uns durch sein unsterbliches „quid est veritas“ (Was ist Wahrheit?) eine ziemlich sichere Vorstellung von seiner Mentalität machen.

    Abstrahiert vom religiösen Aspekt des Dialogs zwischen Unserem Herrn und Pontius Pilatus, können wir nicht umhin, die historische Schönheit der Szene zu berücksichtigen, die von den Evangelien nur kurz berichtet wird.

    Der Dialog zwischen dem römischen Statthalter und dem unschuldigen Opfer seiner Feigheit repräsentiert den Dialog zwischen einer aussterbenden Ära in den letzten Schimmern einer dekadenten Zivilisation und einer anderen, die im Blut und der offensichtlichen Schande des Kreuzes geboren wurde, aber die innerhalb weniger Jahrhunderte in einer sanften Morgendämmerung friedlichen Sieges erblühen würde und verwirrten Menschen die sanftmütige Beruhigung einer Heilslehre bringen würde.

    Der römische Statthalter wird mit dem „quid est veritas?“ lebend dargestellt, mit dem er Jesus in Verlegenheit bringen wollte.

    Der zivilisierte Römer, dessen Sinne bereits alle Freuden einer zum Vergnügen lebenden Gesellschaft genossen hatten; der gebildete Römer, dessen rastlose Intelligenz eifrig alle philosophischen Systeme durchquert hatte; die mittelmäßige Wissenschaftler auf dem literarischen Markt Roms preisgaben, genau wie die Modeschöpfer wenn sie die neuesten exotischen Stoffe aus dem Orient auslegten; der von Lust überwältigte Mann, der von seiner Sinnlichkeit nicht lassen konnte, dessen Persönlichkeit in einer Flut von verwirrten und unvollkommenen Lehren versank, in der Entspannung seiner unzufriedenen Sinne; der arme Römer, trauriges Opfer der Pestilenz eines sterbenden Zeitalters, strömt durch das „quid est veritas?“ all die Bitterkeit aus, von jemanden, der um sich herum nur die Trümmer wahr nimmt, die aus der eigenen Verwirrung seiner Vernunft und Sinne entsprungen sind.

    Und der demütige Nazarener, der ein Leben voller Entbehrungen und Selbstverleugnung verbracht hatte und der, jung, schön und anmutig, für seine Folterknechte sterben würde, eine Wahrheit hochhaltend, die er verkörperte, stellt genau den entgegengesetzten Pol dar.

    Es ist der großartige Kontrast zwischen dem Abgrund voller Feuchtigkeit, Dunkelheit und Kälte und dem hoch aufragenden Gipfel eines Berges voller Licht, Harmonie und Schönheit.

    Nicht der stolze Prätor hat gesiegt. Der skeptische Sybarit, der zwischen ängstlich und gleichgültig vergeblich schien nach der Wahrheit gesucht zu haben, wurde von dem demütigen Opfer donnernd besiegt, das seine eigenen Lehren mit Blut tränkte und das System des Zweifels und der Leugnung des Pilatus durch ein System der Bejahung und des Aufbauens ersetzte, die die zivilisierte Menschheit so viele Jahrhunderte lang bewundert hat!

    Und der Ausspruch des skeptischen Statthalters wurde von der Kirche Jahrtausende lang den demütigen Völkern in den gotischen Kathedralen anlässlich der Karwoche in Erinnerung gerufen, als Ausruf der Unvernunft und Verzweiflung einer untergehenden Zivilisation. Das “quid est veritas?“ des Pilatus, ausgesprochen in der Agonie der römischen Zivilisation, ist gleichbedeutend mit dem „vicisti tandem, Galilæo, vicisti“, das Julian der Abtrünnige bei seinem Tod der Welt als letzten Ausbruch eines empörten Herzens vermachte.

    Beide sind Ausrufe der Empörung und der Verzweiflung angesichts des heraufkommenden Sieges der Wahrheit.

    Aber der Ausruf des Pilatus blieb nicht ohne Echo.

    Heute hallt er abermals in unserer neuheidnischen Gesellschaft wider, in unserer Welt, die den Schrecken eines grassierenden Wissenschaftswahn ausgesetzt ist, der fast ausschließlich von gescheiterten Doktrinen und wissenschaftlichen Erforschungen geprägt ist.

    Wenn wir den aktuellen Stand der Wissenschaft betrachten, so wie ein Skeptiker ihn sehen kann, erinnern wir uns unmerklich an unsere Urwälder. Die Vegetation ist dermaßen üppig, es gibt so viele Parasiten, Lianen, Pflanzen aller Art, die irrige Verflechtung der grünen Netze von Kletterpflanzen, dass es auf den ersten Blick an gewissen Abschnitten schwierig ist, schöne Bäume zu entdecken, die in einer tadellosen Geraden ihre dicht belaubten Kronen hoch schießen.

1500 Jahre alter Jequitibá im Bundesland Minas Gerais

    So auch die moderne wissenschaftliche Welt. Der Zusammenprall der  
Lehren, die Verwirrung der Systeme, die Widersprüche zwischen den heutigen Entdeckungen und den gestern noch für wahr gehaltenen Gesetzen sind dermaßen, dass der gerade und belaubte Baum der Wahrheit, der prächtige Jequitibá* (s. Bilder) des ewigen Wissens, der allen Prüfungen widersteht und allen wissenschaftlichen Parasiten überlegen ist, nur schwer zu entdecken ist.

    Aber warum gibt es in unserer Zeit die verderbliche Vegetation, die versucht, die Wahrheit zu verhüllen? Warum gibt es so viele besiegte Menschen, so viele Individuen, die die Wahrheit als Seifenblase betrachten, die, kaum hat man sie auf der Hand, um sie zu untersuchen, verschwindet?

    Wegen dem Rückfall des Menschen ins Heidentum. Wegen der Auflehnung der Vernunft selbst gegen die Offenbarung, die uns jedoch die Logik zwingt zu akzeptieren. Vor allem wegen des Stolzes und der in Unordnung gebrachten Sinne, die gegen jede Zurückhaltung, gegen jedes Gesetz sich auflehnen.

    Gerade noch vor kurzem haben wir eine offensichtliche Äußerung erlebt, zu dem was wir gerade gesagt haben. Ein berühmter Wissenschaftler, Dr. Franco da Rocha, wiederholt und bestätigt die Frage des Pilatus in seinem jüngst veröffentlichten Buch über Psychoanalyse.

    Erstaunlicher ist jedoch, dass ein namhafter Journalist, Dr. Plinio Barreto, der das Buch des genannten Schriftstellers kommentiert, den jahrtausendalten Ausruf des Pontius Pilatus nicht nur gutheißt, sondern auch mit den unbestrittenen Autoritäten im Thema wie Anatole und Loy untermauert.

    Also, studieren, sich bemühen, verschiedene und bemerkenswerte Kenntnisse erwerben, um das ganzheitliche Versagen der menschlichen Intelligenz angesichts der unmittelbarsten Probleme des Lebens zu erreichen! Ist das im Sinne der Logik gesund?

    Wenn also die Intelligenz nicht in der Lage ist, irgendeine Wahrheit zu erkennen, muss man zugeben, dass sie selbst um die Relativität allen Wissens zu behaupten, verdächtig ist.

    Selbst für diejenigen, die das Scheitern des Geistes bei der Suche nach der Wahrheit erklären wollen, gibt es nichts Unlogischeres als Anatoles Bild einer Scheibe mit verschiedenen Farben, die die verschiedenen Wahrheiten repräsentieren, und die, wenn man sie dreht, das Phänomen der Überlagerung der Farben hervorruft, was zu einer „weißen Wahrheit“, der Überlagerung aller Wahrheiten, führen würde. Die Behauptung, die Wahrheit könne die Überlagerung einiger widersprüchlicher Konzepte sein, ist eine Beleidigung des gesunden Menschenverstands. So könnten zwei Menschen, von denen der eine behauptet, dass ein Juwel in einem Raum ist, und der andere, dass kein Juwel vorhanden ist, die echte Wahrheit erfahren durch „Überlagerung“ beider Vorstellungen!!!

    Nicht weniger absurd ist die Allegorie von Dr. Loy. Ihm zufolge ist die Wahrheit eine Sonne, vor die ein Prisma gestellt wurde. Die Zersetzung der Sonnenstrahlen durch das Prisma würde dazu führen, dass die Wahrheit in jeder Region des Globus in einer anderen Farbe erscheint.

    Ihm zufolge gibt es eine Arithmetik in Indien, eine in Grönland, eine in Japan und eine in Ungarn. Wir sind uns dieser Tatsache, die in der Tat einmalig ist, nicht bewusst.

    Wir müssen unsere unprätentiösen Überlegungen mit Melancholie beenden. Wir sehen, dass das Neuheidentum unserer Zeit die Wissenschaft in einem solchen Ausmaß infiltriert hat, dass der gesunde Menschenverstand beschmutzt ist und dass selbst das elementarste Wissen von Personen mit unzweifelhaftem Ruf und intellektuellem Wert hochmütig geleugnet wird.

    Und es könnte gar nicht anders sein! Die Philosophen des 18. Jahrhunderts leugneten den katholischen Glauben im Namen der Vernunft, deren Kult die Französische Revolution einführen wollte. Die Entwicklung derselben revolutionären Bewegung führte zur Verleugnung der Vernunft selbst, so dass nur noch... Trümmer übrig blieben, wie wir sie fast überall sehen.

*) Cariniana legalis ein brasilianischer Mammutbaum. Er kann 3 Tausend Jahre alt werden.

 

Aus dem Portugiesischen übersetzt mit Hilfe von DeepL Übersetzer (kostenlose Version) in “Legionário” Nr. 64, vom 24. August 1930

© Nachdruck der deutschen Fassung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

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Donnerstag, 7. Oktober 2021

Unbehagen und Wiederbelebung der konservativen Bewegung in Amerika

 Studie

Die Tradition der Vergessenheit entrissen
und die Rolle von Plinio Corrêa de Oliveira
bei der Bildung der internationalen religiösen Rechte

von Julio Loredo

In der revolutionären Mythologie schreitet der historische Prozess ständig „voran“, d. h. zu immer liberaleren, egalitäreren, toleranteren, weltlicheren, inklusiveren, kurz „moderneren“ Denk-, Fühl- und Lebensweisen. Mit anderen Worten, es geht immer Richtung links. Unerbittlich.

Von „Unbehagen“ zur „Wiederbelebung“

An der Wende der 1960er und 1970er Jahre schien dies eine unumstößliche Wahrheit zu sein. Während im kulturellen Bereich die Giftstoffe des Jahres 1968 die moralischen und psychologischen Grundlagen des Westens auflösten, schritt im gesellschaftspolitischen Bereich der Kommunismus unverdrossen voran. Die Vereinigten Staaten, de facto der Führer der nichtkommunistischen Welt, zogen sich vor allem nach der Vietnam-Katastrophe zurück. Das amerikanische Volk versank psychologisch in etwas, das Analysten als „Unbehagen“ benannten, und als Zeichen eines nicht fernen Todes gedeutet wurde. Dieses „Unbehagen“ verbreitete sich dann in der ganzen westlichen Welt.

Im kirchlichen Bereich feierten die Befürworter der so genannten Hermeneutik des Bruchs und der Diskontinuität, die das Zweite Vatikanische Konzil als die Geburt einer Neuen Kirche interpretierten, ihren Sieg. Stark blies in der Kirche der Wind der so genannten „Euphorie des Widerspruchs“. Überall triumphierte die progressive Linie. Traditionalismus wurde fast buchstäblich auf eine unbedeutende Minderheit reduziert.

1979 begann sich jedoch alles zu ändern.

Im Mai gewann Margaret Thatcher die Wahlen in Großbritannien und leitete damit eine konservative Wende ein, die innerhalb weniger Jahre den sozialistischen Apparat zerschlug, der das Land mehr als ein halbes Jahrhundert lang beherrscht hatte. Dann, im November 1980, gewann Ronald Reagan die US-Wahlen und führte die Conservative Movement an die Macht. Und auch hier wurde das Land von einer kopernikanischen Wende getroffen. „The Sixties are over! - Die Sechziger Jahre sind vorbei!“ war einer der am häufigsten wiederholten Slogans. Es war der Beginn der „Conservative Revival“, der konservativen Wiederbelebung, die sich dann über die ganze Welt ausbreitete und in vielen Ländern neue Rechte Regierungen mit deutlicher religiöser Inspiration hervorriefen.

Im kirchlichen Bereich markierte das Pontifikat von Johannes Paul II., wenn auch mit Licht und Schatten, gleichermaßen einen Wendepunkt, von dem das Motu proprio Ecclesia Dei (1988) das Beispiel gab, das erneut die Türen zur tridentinischen Liturgie öffnete. Überall begann der Traditionalismus zu wachsen, vor allem unter der Jugend. Es entstanden mehrere religiöse und kirchliche Institute mit einer konservativ-traditionalistischen Ausrichtung. Die Exzesse der progressiven Theologie wurden verurteilt. Dieser Wendepunkt wurde im Pontifikat von Benedikt XVI. noch verstärkt, beispielsweise mit dem Motu proprio Summorum Pontificum, das Situationen wie in der Kirche in Frankreich veränderte, in der fast die Hälfte der neugeweihten Priester dem traditionellen Ritus angehören.

Die „Conservative Revival“ wurde sowohl in ihren zeitlichen als auch in ihren religiösen Aspekten von vielen Intellektuellen sehr detailliert und gründlich studiert. Akademische Literatur ist zu diesem Thema reichlich vorhanden. Ein Punkt ist jedoch noch nicht ausreichend erforscht: die Rolle Brasiliens und konkret die von Professor Plinio Corrêa de Oliveira bei der Entstehung und Entwicklung dieser Reaktion.

Um diese Lücke zu füllen, hat Benjamin A. Cowan kürzlich das Buch „Moral Majorities across the Americas. Brazil, the United States and the Creation of the Religious Right” veröffentlicht. (University of North Carolina Press, 2021, 294 S.). Professor Cowan ist ein Harvard-Absolvent und Professor für Geschichte an der University of California in San Diego.

Seine Forschungsarbeit ist erheblich. Nicht weniger als 824 Fußnoten zeugen von der Fülle an Referenzen, mit denen der Autor sein Werk bereichern wollte. Die meisten Quellen sind unveröffentlicht: das persönliche Archiv von Msgr. Geraldo de Proença Sigaud; Berichte der brasilianischen Geheimdienste; die Paul Weyrich Papers der Manuskriptabteilung der Library of Congress; die Diözesanarchive São Paulo und Diamantina; das Archiv des brasilianischen Außenministeriums und viele mehr.

Wie bei jeder Arbeit der historischen Analyse wären einige Unterscheidungen zu treffen, insbesondere von Seiten von Personen wie mir, die an einigen der erwähnten Fakten teilgenommen haben oder mit denen, die daran teilnahmen, engen Kontakt hatten. Trotzdem handelt es sich um ein substanzielles Werk, das dazu bestimmt ist, die wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema zu konditionieren. Es sollte daran erinnert werden, dass Professor Cowan ein Liberaler ist und sich daher in einer ideologischen Position befindet, die den untersuchten Realitäten entgegengesetzt ist. Er ist weit davon entfernt eine Lobschrift verfasst zu haben, es ist vielmehr eine Kritik, manchmal sogar eine sehr bissige.

Das Zweite Vatikanische Konzil

Das erste Kapitel ist dem Zweiten Vatikanischen Konzil gewidmet.

Prof. Plinio Correa de Oliveira (Mitte mit Hut)
 auf dem Weg zum Konzil auf dem Petersplatz 1962 


Trotz der umfangreichen Bibliographie, die inzwischen über das Konzil vorliegt, vertritt Cowan die Ansicht, dass die Wissenschaftler dem „entscheidenden Handeln einer geschlossenen Gruppe von Brasilianern, die während und nach dem Konzil daran arbeiteten, die Flut des Reformismus einzudämmen, noch nicht den gebührenden Stellenwert eingeräumt haben. (...) Die zentrale Rolle der Brasilianer [in der traditionalistischen Reaktion] wird gewöhnlich in den Schatten gestellt“ [1]. Übersehen werden zum Beispiel die Interventionen von Monsignore José Maurício da Rocha, Bischof von Bragança Paulista, „Monarchist, entschiedener Antimodernist, Antikommunist und Antiliberaler“. Besser bekannt, aber immer noch nicht gut erforscht, ist das Vorgehen von Msgr. Geraldo de Proença Sigaud, Erzbischof von Diamantina, und Msgr. Antonio de Castro Mayer, Bischof von Campos.

Erzbischof Geraldo P. Sigaud *
Diese „geschlossene Gruppe von Brasilianern“ wurde von den beiden letztgenannten Konzilsvätern gebildet, angeregt und unterstützt von den Mitgliedern der TFP, die zu diesem Anlass zwei Filialen in der Ewigen Stadt eröffnet hatten. Inspirator und treibende Kraft dieser Gruppe war zweifelsohne Professor Plinio Corrêa de Oliveira.

Trotz der Tatsache, dass diese Gruppe „eine wichtige und in gewissem Sinne bahnbrechende Rolle in der Politik des traditionalistischen Katholizismus auf nationaler und transnationaler Ebene während und nach dem Konzil spielte, werden Mayer, Sigaud und die sensationelle TFP in der Geschichtsschreibung über die Entstehung der erzkonservativen katholischen Reaktion in der ganzen Welt oft nicht erwähnt. (...) Die Forschung hat diesen brasilianischen Beitrag weitgehend ignoriert. (...) In diesem ersten Kapitel möchte ich diesen Aktivismus der konservativen Brasilianer während des Zweiten Vatikanischen Konzils als ein Element des Aufbaus und der Entwicklung eines transnationalen katholischen Traditionalismus skizzieren. (...) Die Brasilianer waren keineswegs die wichtigste - und bisher vernachlässigte - Kraft hinter dem konservativen Widerstand im Zweiten Vatikanum“ [2].

Cowan behauptet natürlich nicht, dass dies die einzige Komponente der traditionalistischen Reaktion während des Konzils war. Er argumentiert lediglich, dass dem bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Die antiprogressistische Tätigkeit von Plinio Corrêa de Oliveira, so Cowan, begann in den 1930er Jahren mit der Gründung der Gruppe des Legionario und setzte sich in den 1940er Jahren mit seiner Opposition gegen den Neomodernismus innerhalb der „Katholischen Aktion“ und in den 1950er Jahren mit der Gründung der Catolicismo-Bewegung fort. Zu Beginn der 1960er Jahre hatte Plinios antimodernistisches Werk „in Brasilien Widerhall gefunden [und] hatte auch [sogar] international bedeutende Auswirkungen, die dazu beitrugen, die globale katholische Reaktion gegen Modernisierung und Säkularisierung zu formen und zu unterstützen“ [3]. Als Dr. Plinio 1962 in Rom eintraf, hatte er also bereits sehr klare Vorstellungen und einen perfekt ausgearbeiteten Schlachtenplan, im Gegensatz zu so vielen anderen Konservativen, „die von der progressiven Wende des Konzils überrascht wurden“ [4]. In der Tat, erklärt Cowan „hat die TFP die Ausrichtung des Konzils vorweggenommen und begonnen, sich zu organisieren, bevor er begann“ [5]. In den Privatarchiven von Msgr. Sigaud finden sich Berichte über Treffen mit Plinio Corrêa de Oliveira, bei denen ein Plan ausgearbeitet wurde, um sich dem progressiven Angriff auf dem Konzil zu widersetzen, bevor er in die Ewige Stadt ging.

Bischof Antonio de Castro Mayer
     Dieser Plan ist in dem Votum enthalten, das Bischof Sigaud dem Konzil vorlegte, das aber von Plinio Corrêa de Oliveira inspiriert und vielleicht auch mitverfasst wurde: „Die Kirche muss weltweit den Kampf gegen die Revolution organisieren“ [6]. Dr. Plinios realistisch besorgte Sichtweise stand in scharfem Kontrast zu dem „Jubel“, den nicht wenige Konservative über die Einberufung des Konzils hegten, da sie darin eine Chance für eine „konservative Erneuerung“ sahen, während der brasilianische Leader befürchtete, dass es sich in ein Debakel verwandeln würde [7].

Während des Konzils versammelten sich die Traditionalisten im Coetus Internationalis Patrum. Aus den Archiven von Bischof Sigaud geht hervor, dass dieser bei der Gestaltung des Coetus eine zentrale Rolle spielte und dabei stets von Plinio Corrêa de Oliveira unterstützt wurde. Ihm gehören zum Beispiel die Manuskripte mit den „Entwürfen für die Struktur, die Sitzungen, die Veröffentlichungen, die Aktivitäten und die Finanzierung“ des Coetus. In einem Brief an den brasilianischen Außenminister, in dem er ihn um finanzielle Unterstützung bat, schrieb Sigaud: „Ich kann [in Rom] keine freiwilligen und zuverlässigen Mitarbeiter finden. Die brasilianischen Aktivisten hingegen arbeiten nur im Geist der Hingabe zu unserer Sache, mit großer Effizienz und Diskretion. (...) Sie sind Spezialisten, jeder in einem Aspekt des Konzils. (...) Das Rückgrat des Coetus war immer und muss auch weiterhin diesen brasilianischen Aktivisten anvertraut werden“ [8]. Cowan kommt zu dem Schluss, dass „der Aktivismus der TFP eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung des konservativen Blocks gespielt hat“.

Msgr. Marcel Lefèbvre selbst bezeichnete die TFP als den „Leitungsausschuss“ des Coetus [9]. Eine Meinung, die der französische Historiker Henri Fesquet teilt. Abschließend stellt Cowan fest: „Wie wir gesehen haben, gehörten Marcel Lefèbvre und seine Anhänger zu denjenigen, die die Brasilianer als die Hauptakteure, ja sogar als Helden in diesem Bereich betrachteten“ [10].

Wir lassen ein langes Kapitel mit dem Titel „The beauty of hierarchies“ (Die Schönheit der Hierarchien) aus, in dem Cowan die Lehren erläutert, die der TFP zugrunde liegen. Interessant ist jedoch, wie Cowan zufolge, die TFP aus ihrer katholischen Vision nicht nur eine progressivfeindliche Vision im religiösen Bereich ableitet, sondern auch eine traditionalistische Konzeption der weltlichen Gesellschaft, die eng mit der ersteren verbunden ist. Daher ihre Kämpfe im politischen, sozialen, kulturellen, moralischen und religiösen Bereich. Interessant ist auch Cowans Beharren auf der „ästhetischen Dimension“ der von der TFP angestrebten Gegenrevolution.

Professor Cowan kommt zu dem Schluss: „Obwohl der katholische Traditionalismus der Bereich ist, in dem diese [TFP]-Aktivisten die direkteste und anerkannteste Wirkung hatten, erstreckt sich ihr Einfluss auch auf den weiteren Bereich des modernen religiösen Konservativismus. Darauf werde ich in den folgenden Kapiteln eingehen. (...) Der Aktivismus der TFP machte Brasilien zu einem wichtigen Schauplatz für die Entwicklung dieser besonderen Form des religiösen Konservativismus, die später innerhalb und außerhalb Brasiliens Widerhall finden sollte“.[11]

Schaffung der „Neuen Transnationalen Rechten“

Im vierten Kapitel will Cowan „die Rolle Brasiliens als Hauptkern des Netzwerks nachzeichnen, aus dem die transnationale Neue Rechte hervorging“ [12]. Es muss klargestellt werden, dass die „Neue Rechte“, auf die er sich bezieht, nichts mit der europäischen Nouvelle Droite und ihrer neuheidnischen Grundzügen zu tun hat. Die Grundlagen dieser Neuen Rechten, so Cowan, seien Antikommunismus, die Verteidigung moralischer Werte und der westlichen Kultur. Gerade die gemeinsame Abneigung gegen den Kommunismus - damals der schlimmste Feind der westlichen christlichen Zivilisation - veranlasste viele Gruppen und Bewegungen, ihre Bemühungen zu bündeln. Cowan zeigt, dass die TFP dabei eine wichtige Rolle spielte: „Brasilien wurde zu einem zentralen Ort für die Entstehung und Akkreditierung rechter Persönlichkeiten und Bewegungen, deren Bedeutung über die nationalen Grenzen hinausging“ [13].

Auf der Grundlage größtenteils unveröffentlichter Dokumente analysiert der Autor insbesondere die Beziehungen zwischen der TFP und der amerikanischen New Right. Um sie zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurückgehen.

Ende der 1940er Jahre, mit der Veröffentlichung von Burke's Politics [14], begann sich in den Vereinigten Staaten das herauszubilden, was später als Conservative Movement [15] bezeichnet wurde. Nach einer Periode der Ausarbeitung von Doktrinen und einem verfrühten und daher erfolglosen Wahlversuch mit Barry Goldwater im Jahr 1964 landete diese Bewegung Ende der 1960er Jahre in Washington, wo sie Think Tanks wie die Heritage Foundation und Strukturen für politische Aktionen wie die Free Congress Foundation gründete. Paul Weyrich, ein katholischer Traditionalist österreichischer Herkunft, war das Herzstück dieser Bewegung. Diese Neue Rechte trug 1980 dazu bei, dass Ronald Reagan die Präsidentschaft erlangte, als der erste „konservative“ Präsident der USA. So begann eine tiefgreifende und kraftvolle Comservative Revival, konservative Wiederbelebung, die nicht nur die Politik, sondern auch die Kultur betraf [17].

Außer den politischen und kulturellen Aktionen begannen die Katholiken der Neuen Rechten (die in der Tat die vorherrschende Stimme waren) eine Kampagne gegen den Progressivismus innerhalb der Kirche. Zu diesem Zweck gründeten sie das Catholic Center, um „die linksgerichtete progressive Bewegung in der Kirche zu bekämpfen“ [18]. Aus dieser Schmiede kam zum Beispiel 1986 die erste Anprangerung der Homosexuellen-Lobbys [19]. Sowie mehrere Studien gegen die sogenannte Befreiungstheologie [20]. Es ist kein Zufall, dass es heute im Großraum Washington D.C. nicht weniger als fünfzehn Messen im alten römischen Ritus gibt. Es ist die große Welle des Conservative Revival.

Professor Plinio Corrêa de Oliveira, der auf Entwicklungen achtete, die auf eine potenziell gegenrevolutionäre Reaktion hindeuten könnten, misst dem Aufkommen dieser New Right große Bedeutung bei, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre konkreten Aktionen als auch vor allem im Hinblick auf das, was sie für einen Wandel in der nordamerikanischen ideologischen Landschaft darstellt. Um die Beziehungen zu ihr zu intensivieren, verstärkte die amerikanische TFP ihre Präsenz in der Hauptstadt mit dem TFP Washington Bureau, dem Cowan breiten Raum widmet.

Im Juni 1981 wurde Plinio Corrêa de Oliveira in São Paulo von James Lucier, Berater des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des US-Senats, und Francis Bouchey, Vizepräsident des Interamerikanischen Sicherheitsrats, besucht, beide prominente Mitglieder der New Right. Dann, 1988, erhielt er Besuch von Führern der Neuen Rechten, darunter Paul Weyrich und Morton Blackwell. In seiner Rede vor den Mitgliedern und Mitarbeitern der brasilianischen TFP erklärte Weyrich: „Die Gespräche, die ich mit eurem Leiter [Plinio Corrêa de Oliveira] geführt habe, waren die außergewöhnlichsten in meiner gesamten politischen Laufbahn“ [21].

Cowan interessiert vor allem die Internationalisierung dieser Neuen Rechten. Deshalb widmet er mehrere Seiten der Geschichte des International Policy Forum, einer von Paul Weyrich konzipierten und von Morton Blackwell geleiteten Allianz konservativer Vereinigungen. „Der Aufbau einer transnationalen Neuen Rechten“, so Cowan, „erfolgte durch Organisationen, die speziell zu diesem Zweck geschaffen wurden. (...) Das International Policy Forum (IPF) war eine solche Organisation, vielleicht das paradigmatische Beispiel. (...) Das IPF hat relativ wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten“ [22]. Das erste Treffen fand 1985 in Washington statt.

„Seit mehr als zwei Jahrhunderten haben die Intellektuellen und Aktivisten der Linken ihre internationalen Netzwerke aufgebaut, während die Konservativen ihre Mitstreiter in anderen Ländern überhaupt nicht kannten“, heißt es in einem IPF-Dokument [23]. Der Hinweis auf „mehr als zwei Jahrhunderte“ ist interessant und zeigt, dass die Mitglieder des IPF nicht ausschließlich antikommunistisch eingestellt waren, sondern eine umfassendere Vision des revolutionären Prozesses hatten.

Die Idee einer „transnationalen konservativen“ Bewegung war nicht neu. Die Gesellschaften zur Verteidigung von Tradition, Familie und Eigentum (TFP), die heute in zwanzig Ländern vertreten sind, bildeten bereits eine Art „Internationale der Gegenrevolution“. Auf Anregung von Plinio Corrêa de Oliveira und inspiriert durch das Beispiel der TFP gründete Paul Weyrich das IPF und lud die brasilianische Führungspersönlichkeit in den Verwaltungsrat ein: „Weyrich baute eine enge und fruchtbare Beziehung zur brasilianischen Gesellschaft zur Verteidigung der Familientradition und des Eigentums (TFP) auf, oder besser gesagt, zum transnationalen Netzwerk der TFP-Verbände“ [24]. Tatsächlich wurde der Leiter der New Right auf vielen seiner internationalen Reisen, auf denen er Kontakte zu konservativen/traditionalistischen Realitäten knüpfte, von TFP-Mitgliedern begleitet, die Weyrich „in das Netzwerk der lokalen Freunde einführten“.

All diese Bemühungen, so Cowan, „bildeten internationale Koalitionen zur Verteidigung des traditionellen Christentums“ [25]. Cowan kommt häufig auf die Idee der „Zentralität der TFP“ zurück: „Die TFP breitete sich geografisch aus und gründete Niederlassungen in der gesamten atlantischen Welt. Noch wichtiger ist, dass die TFP Beziehungen zu den meisten Bewegungen der New Right und zu extremistischen [sic] Bewegungen unterhielt und sich selbst in den Mittelpunkt der Bemühungen um eine internationale Zusammenarbeit stellte“ [26].

Auf diese Weise nahm das, was Cowan eine „transnationale Neue Rechte“ nennt, Gestalt an. Der kalifornische Professor bekräftigt: „Diese Vertreter der brasilianischen Rechten waren Pioniere bei der Schaffung von Netzwerken der Zusammenarbeit mit ähnlichen Realitäten im Norden, eine Zusammenarbeit, die den Grundstein für die Konstituierung einer Neuen Transnationalen Rechten legte“ [27]. Der Autor zählt dann die Grundideen dieser Neuen Rechten auf: „Nostalgie für die Vergangenheit, vorzugsweise das Mittelalter; übernatürliche Vision; Antikommunismus; Antimodernismus; Moralismus; Anti-Ökumene; Verteidigung der Hierarchien; Verteidigung des Privateigentums und des freien Unternehmertums“ [28]. Dem Autor zufolge war die TFP der Hauptakteur bei der Entwicklung dieses neokonservativen Kreuzzuges auf dem Kontinent und in der Welt“.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass Cowan selbst zugibt, dass die TFP während dieser Verhandlungen immer ihre Identität als „militante Katholiken“ beibehielt, niemals Kompromisse einging und niemals verbarg, dass ihr Ziel die Gegenrevolution war, d.h. die Wiederherstellung der christlichen Zivilisation in ihrer Integrität.

Neben diesen Bemühungen, die New Right Galaxie zusammenzuführen, beschreibt Cowan, wenn auch nur kurz, die Bemühungen, Kontakt mit europäischen traditionalistischen Realitäten aufzunehmen, wie Alleanza Cattolica in Italien und Lecture et Tradition in Frankreich.

Abschließend äußert Benjamin Cowan die Hoffnung, dass die Rolle der TFP und von Professor Plinio Corrêa de Oliveira bei der Entstehung der antiprogressistischen Reaktion in der Welt von Fachleuten besser untersucht werden solte. Wir schließen unsererseits mit einer Wiederholung des oben Gesagten: Wie bei jeder historischen Analyse müssen einige Unterscheidungen getroffen werden, insbesondere von Personen wie mir, die an einigen der geschilderten Ereignisse teilgenommen haben oder in engem Kontakt mit denjenigen standen, die daran beteiligt waren. Trotzdem handelt es sich um ein umfangreiches Werk, das die akademische Forschung zu diesem Thema bestimmen wird.

Anmerkungen:

[1] Benjamin A. Cowan, Moral Majorities across the Americas. Brazil, the United States and the Creation of the Religious Right, University of North Carolina Press, 2021, S. 16-17.

[2] Ebd., S. 17-19.

[3] Ebd., S. 18.

[4] Ebd., S. 25.

[5] Ebd., S. 25

[6] Ebd., S. 230.

[7] Ebd., S. 234.

[8] Ebd., S. 23.

[9] Ebd., S. 24.

[10] Ebd., S. 59.

[11] Ebd., S. 59.

[12] Ebd., S. 137.

[13] Ebd., S. 137.

[14] Hoffman, Ross J. S., and Paul Levak (Eds.). Burke’s Politics: Selected Writings and Speeches of Edmund Burke on Reform, Revolution, and War. S. xxxvii, 536. New York: Alfred A. Knopf, 1949.

[15] Die Literatur über die Konservative Bewegung ist sehr umfangreich. Eine Zusammenfassung findet man in Modern Age, Bd. 26, Nr. 3-4, 1982.

[16] Cfr. Patriottismo, combattività e appetenza del soprannaturale. Intervista a Paul Weyrich, Tradizione Famiglia Proprietà, marzo 2002. https://www.atfp.it/rivista-tfp/2002/103-marzo-2002/733-intervista-a-paul-weyrich

[17] Tatsächlich stand die New Right viel weiter rechts als Reagan, dem sie vorwarf, zu wenig zu tun.

[18] Benjamin A. Cowan, Moral Majorities across the Americas, p. 146.

[19] Enrique T. Rueda, The Homosexual Network. Private Lives and Public Policy, Devin Adair, 1986.

[20] Enrique T. Rueda, The Marxist Character of Liberation Theology, The Catholic Center, 1986.

[21] Benjamin A. Cowan, Moral Majorities across the Americas, S. 151.

[22] Ebd., S. 144.

[23] Ebd., S. 146.

[24] Ebd., S. 151.

[25] Ebd., S. 152.

[26] Ebd., S. 153.

[27] Ebd., S. 60.

[28] Ebd., S. 154-155.

 

Quelle der italienischen Fassung: Duc in Altum – Aldo Maria Valli, 30 settembre 2021.

Vorlage für die Deutsche Übersetzung mit Deepl-Translator
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Eingesehen am 5.10.2021

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„Studie / Die Tradition der Vergessenheit entrissen und die Rolle von Plinio Corrêa de Oliveira bei der Bildung der internationalen religiösen Rechte“ erschien erstmals in deutscher Sprache in
 
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* Bild: Dom Geraldo Sigaud, arcebispo de Diamantina / Reprodução / Nirlando Beirão in https://aventurasnahistoria.uol.com.br/noticias/historia-hoje/historia-igreja-e-ditadura.phtml