Dienstag, 19. März 2024

Überlegungen zum heutigen Kampf

 


Was ist die „soziale Frage“ unserer Zeit?

Im Allgemeinen ist eine „soziale Frage“ jedes Problem, das durch eine Anomalie im Leben der Gesellschaft entsteht. Sie unterscheidet sich von einer „politischen Frage“, da diese die Organisation des Staates betrifft. Niemand ignoriert, dass die Welt viele soziale Fragen erlebt hat, die in Konflikten gipfelten: Kämpfe zwischen Bürgern und Adligen, zwischen Sklaven und freien Menschen, zwischen Adligen und Bourgeoisie im Mittelalter und im 16. Jahrhundert usw. Aber es ist ein Fehler anzunehmen, dass die einzige Form der Lösung einer „sozialen Frage“ der Klassenkampf sei. Die Korruption öffentlicher und privater Bräuche, die Auflösung aller Organismen, die die soziale Struktur bilden, der Niedergang der Familie, der Berufsverbände, der sozialen Klassen, der kommerziellen Redlichkeit, der Künste, all dies kann ein Monstrum von „sozialem Problem“ darstellen, das die Gesellschaft in den Ruin führt. Und ein soziales Problem dieser Art kann existieren, gedeihen und zu den tragischsten Folgen führen, ohne dass es zu Kampf oder Rivalität zwischen den Klassen kommt, aus denen der soziale Organismus besteht. Somit ist der Klassenkampf eine Form von „sozialer Frage“, aber sie ist nicht die einzige und nicht unbedingt die gefährlichste. Das Weströmische Reich zum Beispiel ging aufgrund einer immensen „sozialen Frage“ zugrunde: die gesamte römische Gesellschaft in Italien, wie auch in Gallien oder Iberien, war radikal und absolut verrottet; aus diesem und allein diesem Grund gelang es den Barbaren, die Römer zu beherrschen; die soziale Frage führte also zum Ruin der Gesellschaft und des römischen Staates: dies bedeutete jedoch nicht, dass es im Römischen Reich einen Klassenkampf gab.

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Es ist ein Fehler anzunehmen, dass die soziale Frage heutzutage nur noch aus dem Kampf zwischen Proletariern und Bourgeoisie besteht. Wir leiden unter einem gesellschaftlichen Phänomen des Zerfalls von Charakteren und Institutionen, das absolut so groß, so tief greifend und so ansteckungsfähig ist wie das Römische Imperium in seinen letzten Tagen. Um die Situation noch schlimmer zu machen, haben wir darüber hinaus noch einen Klassenkampf, den es im Römischen Imperium nicht gab.

Gibt es bei uns auch Barbaren? Ja, und zwar innerhalb unserer Grenzen. In unseren Tagen gibt es nicht wie in der Römerzeit eine Trennung zwischen der barbarischen und der zivilisierten Welt. Auf unserer zeitgenössischen Landkarte existieren nicht die beiden Gebiete klar abgegrenzt wie vor der Invasion: auf der einen Seite das kaiserliche Territorium, wo die dekadente Zivilisation ein Untergangsdasein fristete und auf der anderen Seite die barbarische Welt, die Invasion, Plünderung, die allgemeine Zerstörung plante. Heutzutage leben Barbaren in mitten unserer Zivilisation, und mehr noch, sie werden aus ihrem eigenen Schoß hervorgebracht. Wenn nicht alle Barbaren sind, ist fast niemand völlig immun gegen die Barbarei. Jeden Tag geht ein bisschen mehr von dem verloren, was von unserer christlichen Zivilisation übrig geblieben ist: hier wird ein Grundsatz geleugnet, dort eine Tradition eingeschränkt, woanders ein gesunder Brauch aufgehoben. Heute sind wir weniger christlich als gestern, morgen werden wir weniger christlich sein als heute. Wenn alles, was am alten Gebäude der christlichen Zivilisation korrodiert, zerkratzt und zerbricht, materielle Spuren hinterlassen würde und wenn diese Überreste an einem Ort gesammelt und zusammen geführt werden könnten, könnten wir besser mit den Augen des Leibes messen, was nicht jeder mit den Augen des Geistes sieht. Mit Schrecken würden wir dann feststellen, welch fantastische Ausmaße dieses Zerstörungsphänomen annimmt.

In diesem großen Kollektivverbrechen, in dem fast jedem die Hände oder Finger mehr oder weniger mit dem Blut Christi gefärbt sind, wird der Hass seiner schlimmsten Feinde nicht befriedigt. Sie wollen die Todesqual beschleunigen. Sie wollen, dass man sofort, dass man vollständig, dass man mit Gewalt, durch Eisen und Feuer zur letzten Stunde und zum Consumatum est der christlichen Zivilisation komme. Das sind die Kommunisten.

Vor ein paar Tagen veranstalteten die Kommunisten am Anhangabaú [im Zentrum der Stadt São Paulo – AdÜ] eine große Kundgebung und versammelten mehr als 80.000 Auftragnehmer für dieses teuflische Projekt. Zwar waren dort nicht alle Kommunisten, es gab auch Sympathisanten und Neugierige. Es ist auch wahr, dass einige derjenigen, die dort waren, obwohl sie den Sieg des Kommunismus wünschten, nicht genau wussten, dass die Kirche die Wahre Kirche ist und dass sie durch ihren Angriff zu Angeklagten eines Verbrechens gegen Gott selbst wurden. Das ist egal. Ihre Schuld bestand im Nichtwissen. Unser Herr vollbrachte Wunder, die das gesamte jüdische Volk miterlebte. Wenn dennoch viele im Moment der Passion noch nicht sicher waren, dass Er Gott ist, waren sie selbst schuldig an dieser Unwissenheit. Und wenn sie sich aufgrund dieser Unwissenheit zum Gottesmord verführen ließen, machten sie sich des Gottesmordes schuldig. Und das geht so weit, dass wir nicht nur die Dämonen des Hohen Rates, die wussten, wen sie töteten, und ihn töteten, weil sie wussten, wer er war, Gottesmörder nennen, sondern das gesamte Volk Israel, und das, weil auch die Unwissenden schuldig waren am Blut Gottes. Hier ist die Kirche Christi, und in ihr leuchten die Charaktere der Göttlichkeit wie eine Sonne. Wer sich dieser Eigenschaften nicht bewusst ist, nachdem er die heilige Taufe empfangen und sich bewusst zum Glauben bekannt hat, ist daran schuldig. Wenn es jemanden gibt, der sich aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Kirche von ihr trennt und ihre Lehre, ihre Institutionen und die von ihr hervorgebrachte Zivilisation hasst, dann ist er ein Schuldiger am Blut Christi. Wenn es einen Katholiken gibt, der den Punkt erreicht hat, vom Glauben abzufallen und sich den Reihen der Zerstörer der christlichen Zivilisation und der Kirche Jesu Christi anzuschließen, dann hat er Schuld am Blut Christi, ganz gleich, durch welchen Grad an Unwissenheit er ins Verbrechen hindurchgerutscht ist. Und wenn die unwissenden oder gleichgültigen(?) Katholiken oder Ex-Katholiken, die dort waren, schuldig am Blute Christi sind, was ist dann mit den anderen, die dort waren, und wussten, was gewollt war, was geplant war, wohin das alles führen würde, und wem man mit all dem verfolgt?

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Was hat so viele Menschen zu so großen Verbrechen geführt? Man sagt, dass es der Hunger ist. Wird das wahr sein?

Lassen wir jegliche Demagogie beiseite und schauen uns die Dinge direkt an.

Zunächst müssen wir bedenken, dass die Menschen, die dort waren, größtenteils nicht zu der Gesellschaftsschicht gehörten, die am meisten darunter leidet. Leider haben wir immer noch Arbeitskräfte, die in Not sind. Aber man muss anerkennen, dass sie eine Minderheit darstellen. Die überwiegende Mehrheit unserer Arbeiter lebt im wahren Überfluss. Das weiß jeder. Das Klein- und Mittelbürgertum leidet enorm: bescheidene Beamte, Witwen und Waisen, die von geringen, abgewerteten Einkommen leben, von Renten, die durch die Inflation unzureichend geworden sind, Lehrer, die schlechter bezahlt werden als ein Straßenbahnführer oder ein Schuhputzer, und dennoch gezwungen sind, sich einem bestimmten Kleidungsstil anzupassen. Das sind die Hauptleidtragenden. Nun, das sind nicht die Hauptrebellen! Wir finden die Rebellen in allen Klassen und sogar bei belanglosen Salonjungen. Also ist es nicht der Hunger, der den Aufstand verursacht.

Revolte? Sagen wir besser, Apostasie. Kann Hunger allein einen Abfall vom Glauben herbeiführen? Kann er das Einzige sein, das dafür verantwortlich ist, dass jemand seinen Glauben verliert?

Nein. Es ist katholische Lehre, dass niemand über seine Kräfte hinaus versucht wird. Gott gibt jedem die nötige Gnade. Wenn also ein Katholik sündigt, sündigt er aus freien Stücken. Der Anlass zur Sünde kann Hunger, Wollust oder irgendetwas anderes sein. Aber das Sündigen ist seine eigene Schuld.

Der Grund für so viele Abtrünnige liegt also viel mehr in der Schwäche der Überzeugungen und des religiösen Eifers des Sünders, in seinem Mangel an Großzügigkeit gegenüber Gott. Und es besteht nur in zweiter Linie in dem Anlass, der ihn zur Sünde verleitete.

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Aus alledem folgt, dass der Kommunismus und der Klassenkampf heutzutage nicht nur aus rein wirtschaftlichen Gründen entstehen. Dazu gehört sicherlich das Problem, aber nicht als wichtigsten Grund. Und die vielen Glaubensabfälle sind nur ein Aspekt der enormen gegenwärtigen Charakterkrise, die letztlich eine religiöse Krise ist.

Wie lässt sich angesichts all dessen die Naivität derjenigen beurteilen, die glauben, dass mit der Lösung der wirtschaftlichen Frage auch die soziale Frage gelöst sei? Derjenigen, die der Meinung sind, dass gegen den Kommunismus keine Gewalt eingesetzt werden darf, wie gegen die Kriminalität, weil der Kommunismus Hunger und kein Verbrechen ist?

Die Flammen der kommunistischen Predigt breiten sich aus mit der Geschwindigkeit des Feuers. Die intelligentesten, effektivsten und sichersten Sozialreformen wirken nur langsam. Lange bevor die Therapie ihre Wirkung zeigt, wird der Patient den Arzt erdrosselt haben.

Wenn es nur der Arzt wäre, das ist wenig. Der Arzt und alle, die weder mit der Naivität noch mit der Minderheit dieser traurigen „Heiler“ nicht einverstanden waren.

 

 

Aus dem Portugiesischen „Reflexões sobre a luta de hoje“ in O “Legionário” vom 19. Januar 1947.

Diese deutsche Fassung „Überlegungen zum heutigen Kampf“ erschien erstmals
in www.p-c-o.blogspot.com

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