NOVA ET VETERA
José de Azeredo Santos
In gewissen katholisch-Intellektuellen Kreisen besteht die Tendenz, nur das Positive zu betrachten. Sie verabscheuen Verurteilungen, Exkommunikationen und Anathemas. Sie erklären beispielsweise, dass der „Syllabus“ von Pius IX. trotz aller gegenteiligen Beweise äußerst positiv und affirmativ sei. Und selbst in jüngster Zeit gab es diejenigen, die bei der Diskussion des Dokuments, in dem der Heilige Stuhl Rassismus verurteilte, alle Aussagen lieber in eine positive Form übersetzten, um ihren Lesern die Angelegenheit besser zu erklären…
Wir sehen keinen Grund, dieser sogenannten „konstruktiven“ oder
„positiven“ Strömung zu folgen, ebenso wie wir das systematische Verharren in
Negativität oder Destruktivität als bloßen Extremismus betrachten. Der
göttliche Meister sagte einst: „Euer Ja
sei ein Ja und euer Nein ein Nein.“ Es gibt Zeiten, in denen man
bekräftigen und aufbauen muss. Aber es gibt auch Zeiten, in denen man leugnen
und zerstören muss. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, wann man dafür
oder dagegen ist.
Mit großer Überraschung lasen wir die Aussage von Herrn Alceu de
Amoroso Lima, wonach der Heilige Vater Pius XII. den wirtschaftlichen
Feudalismus und das Patriarchat verurteilt habe sollte. Diese Aussage fand in
seiner Ansprache am 8. Juni 1950 vor den Mitgliedern des Internationalen
Kongresses für Sozialstudien statt, der von der Universität Freiburg in Rom
abgehalten wurde.
Der Heilige Vater geht in zwei Auszügen aus dieser Ansprache auf dieses
Thema ein. Im ersten schreibt er: „Wer in den alten Industrieländern glaubte,
dass es heute, wie vor einem Jahrhundert oder gar einem halben Jahrhundert, nur
darum geht, dem von feudalen oder patriarchalischen Bindungen befreiten
Lohnarbeiter (im französischen Originaltext: „dégagé des liens féodaux ou
patriarcaux“) nicht nur rechtliche, sondern auch faktische Freiheit zu
garantieren, der würde ein völliges Unverständnis für den Kern der aktuellen
Situation zum Ausdruck bringen. Seit Jahrzehnten hat sich in den meisten dieser
Länder, oft unter dem entscheidenden Einfluss der katholischen Sozialbewegung,
eine Sozialpolitik herausgebildet, die durch eine fortschreitende Entwicklung
des Arbeitsrechts und damit einhergehend durch die Unterwerfung des privaten
Eigentümers, der die Produktionsmittel besitzt, unter rechtliche
Verpflichtungen zugunsten des Arbeiters gekennzeichnet ist.“
Der Papst kommt später wie folgt auf das Thema zurück:
– „Was die Länder betrifft, in denen nun eine Industrialisierung ins
Auge gefasst wird, so können wir die Bemühungen der kirchlichen Autoritäten nur
loben, Bevölkerungen zu verschonen, die bisher unter ein patriarchalisches oder
gar feudales Regime, insbesondere in heterogenen Siedlungen, daran zu hindern,
die unverschämten Versäumnisse des Wirtschaftsliberalismus des letzten
Jahrhunderts zu wiederholen.“
Herr Tristão de Ataíde kommentierte und interpretierte diese beiden
Auszüge aus der päpstlichen Ansprache im „Diário“ Belo von Horizonte vom 20.
August 1950 wie folgt:
„Dieser Text ist die formelle Verurteilung des Wirtschaftsfeudalismus
und des Patriarchats, sowohl in den alten Industrieländern als auch in Ländern,
deren Industrialisierung gerade erst in Erwägung gezogen wird, ohne die
Unmöglichkeit zu ignorieren, diese ersten Phasen manchmal zu überwinden.“
„Es ist eine Antwort auf diejenigen, die gegen den
Wirtschaftshumanismus argumentieren, Brasilien sei für diese Erfahrungen noch
nicht bereit. Dass es zunächst notwendig sei, Geld zu produzieren und zu
verdienen. Und dann später über soziale Gerechtigkeit nachzudenken.“ Der Papst
sagt genau das Gegenteil. Sowohl in alten Industrieländern wie England oder
Deutschland als auch in Schwellenländern wie Brasilien oder Argentinien müssen
die feudalen und patriarchalen Phasen sofort überwunden oder korrigiert werden,
um eine Humanisierung der Wirtschaft zu erreichen, die sich konkret in einer
„fortschreitenden Entwicklung der Arbeitsrechte und entsprechend der
Unterordnung des privaten Eigentümers, der die Produktionsmittel kontrolliert,
unter gesetzliche Verpflichtungen zugunsten des Arbeiters“ niederschlägt.
Diejenigen in Brasilien, die sich beispielsweise Herrn Getúlio Vargas
widersetzen, tun dies nicht, weil er droht, der Republik von 1946 das anzutun,
was Louis Napoleon der Republik von 1948 in Frankreich oder Getúlio selbst der
brasilianischen Demokratie von 1934 angetan hat, sondern weil er Sozialgesetze
verfasst hat, die dem brasilianischen Arbeiter, wie Gustavo Corção sagte, „das
Bewusstsein gaben, dass es sie bereits gibt“. Diejenigen, die in diesen
Situationen sind, fallen unter die Verurteilung der präzisen Worte von Pius
XII. Feudalismus und Patriarchat sind keine Lösungen. Sie sind ein Rückschritt
oder Routine. Der „gute Chef“ sei ein „veraltetes“ Konzept. Die „fortschreitende
Entwicklung der Arbeitnehmerrechte“ und die „rechtlichen Verpflichtungen des
Eigentümers gegenüber dem Arbeitnehmer haben den wirtschaftlichen Feudalismus
und das Patriarchat ersetzt.“
Wie man leicht erkennen kann, begeht Herr Tristão de Ataíde eine bedauerliche
Verwechslung der sehr klaren Worte Pius XII. Der Heilige Vater verurteilt nicht
Feudalismus und Patriarchat, sondern den Wirtschaftsliberalismus. Er erinnert
lediglich an die historische Phase, in der die Gesellschaft aus einem
patriarchalischen, durch das korporativistische Regime gekennzeichneten Zustand
hervorging und in die Irrtümer des Wirtschaftsliberalismus verfiel, die typisch
für das neue Industriezeitalter des letzten Jahrhunderts waren. Der zweite
Abschnitt ist noch deutlicher: Der Papst lobt die Bemühungen der kirchlichen
Autoritäten, die Bevölkerungen, die bisher unter einem patriarchalischen oder
gar feudalen Regime leben, vor der Wiederholung der unverschämten Versäumnisse
des Wirtschaftsliberalismus des letzten Jahrhunderts zu bewahren. Das bedeutet,
dass die „unverschämten Versäumnisse des Wirtschaftsliberalismus des letzten
Jahrhunderts“ nicht mit Patriarchat oder Feudalismus verwechselt werden dürfen,
da die Länder, die jetzt mit der Industrialisierung beginnen, davon noch verschont
bleiben. Und der Heilige Vater möchte gerade diesen Bevölkerungen die Plagen
des Wirtschaftsliberalismus ersparen, denen die Länder im Übergang zum modernen
Industriesystem im letzten Jahrhundert ausgesetzt waren. Das bedeutet, dass
beim Übergang vom feudalen oder patriarchalen Regime zum Industriezeitalter die
Fehler des Wirtschaftsliberalismus vermieden werden müssen, die in anderen
Regionen vor hundert oder selbst fünfzig Jahren in diesem Übergangsprozess
auftraten.
Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir ein Beispiel vor Augen, auf das
der Heilige Vater den Schwerpunkt legen wollte. Zu den kleinen Manufakturen,
die aufgrund des patriarchalen Regimes entstanden, gehörte die Handwerkskunst,
die aus der mittelalterlichen Wirtschaftsordnung ererbt wurde. In
Nordschottland gab es unter den kleinen Manufakturen, die aufgrund des
patriarchalen Regimes entstanden, die Heimproduktion von Tweed, einem
handgewebten Stoff, der wegen seiner hervorragenden Qualität hochgeschätzt
wurde. Mit der Entstehung großer Textilfabriken, die zwar ein minderwertiges,
aber dank der Einführung mechanischer Webstühle auch billigeres Produkt
herstellten, starb diese kleine Heimindustrie, die einst die Quelle des
Wohlstands für eine ganze Region gewesen war, allmählich aus. Heute sind diese
Handwerker und Weber, die die wahre Freiheit der Kinder Gottes genossen, dem
anonymen Proletariat der großen Industriestädte zugeführt wurden.
Es wäre ein klarer Widerspruch, wenn der Heilige Vater Pius XII., der
ständig die Notwendigkeit predigt, kleinen und mittleren Besitz „in der
Landwirtschaft, im Kunsthandwerk, im Handel und in der Industrie“ zu
gewährleisten und zu fördern, das patriarchalische und feudale Regime
verurteilen würde, in dem das Handwerk und die Diversifizierung des
Wirtschaftslebens eine hervorragende Blütezeit erlebten.
Wenn Pius XII. von der Auflösung der feudalen oder patriarchalischen
Bindungen spricht, denen die Arbeiter vor dem Industriezeitalter unterworfen
waren, will er damit keineswegs Feudalismus oder Patriarchat verurteilen,
ebenso wenig wie die Aussage, dass das Eheband durch den Tod eines Ehepartners
aufgelöst wird, eine Verurteilung der Ehe impliziert. Der Papst bezieht sich
auf die Einführung der viel gepriesenen Arbeitsfreiheit, die durch Turgots
Edikt dem korporativistischen System den Todesstoß versetzte, und auf die
praktischen Konsequenzen, die sich daraus in der Zeit nach der Französischen
Revolution ergaben: Sie zerstörten die Abwehrmechanismen der Arbeiter und
gewährten ihnen die armselige Freiheit, ihre Arbeitskraft zu Preisen zu
verkaufen, die sich nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage richteten.
Gleichzeitig war es den Arbeitgebern freigestellt, nach eigenem Ermessen
Männer, Frauen, Alte und Kinder als Arbeitskräfte einzustellen.
Das war die Situation, die Leo XIII. zeichnete und an welche Pius XII. jetzt
erinnerte: „Nachdem die alten Arbeiterzünfte im letzten Jahrhundert zerstört
worden waren und an ihrer Stelle kein Schutz mehr bestand, weil die
öffentlichen Institutionen und die Gesetze der Religion unserer Väter
abgeschafft worden waren, kam es nach und nach dazu, dass die Arbeiter sich
aufgrund der Zeitverhältnisse, der Unmenschlichkeit ihrer Herren und der
ungezügelten Gier ihrer Konkurrenten allein und schutzlos wiederfanden.“
(Enzyklika „Rerum Novarum“).
Es ist allgemein bekannt, dass das korporativistische System auf seinem
Höhepunkt die Frucht der vom Feudalismus geschaffenen Gesellschaftsordnung war.
Dies trifft insofern zu, als der Niedergang der Korporationen mit dem
Niedergang des Feudalismus zusammenfiel. Unter den zentralistischen und
absolutistischen Regierungen, die aus den Ruinen des Feudalismus entstanden,
wurden durch die Zerstörung des Einflusses des Adels auch Wahlrechte und
öffentliche Freiheiten zerstört. Dieses allmähliche Verschwinden des korporativistischen
Systems wurde mancherorts durch das direkte Eingreifen totalitärer Despoten
beschleunigt, ein Produkt der Renaissance, beispielhaft dargestellt durch
Heinrich VIII. in England. Er versetzte den Zünften des alten Albion einen
tödlichen Schlag, indem er ihren Besitz mit der Begründung konfiszierte, sie
seien Brutstätten des Aberglaubens. Das merkantilistische System sei besser an
den staatlichen Absolutismus angepasst, und schon vor Hitler, Mussolini und
Stalin griffen zentralistische Regierungen wie die Frankreichs und Preußens
entsprechend der politischen und oligarchischen Zweckmäßigkeit des königlichen
Absolutismus in die Angelegenheiten der Korporationen ein. Damit war der Weg
für den heutigen Totalitarismus geebnet, dessen Zwischenstadium der
Liberalismus war.
Kurz gesagt: Pius XII. verurteilte weder Feudalismus noch Patriarchat,
noch wollte er den „guten Chef“ als überholtes Konzept bezeichnen – was in
gewisser Weise einem Verdammen des großen Le Play gleichkäme. Der Feudalismus
ist eine soziale und politische Organisation, die auf bestimmten historischen
Umständen beruht, die sich höchstwahrscheinlich wiederholen werden, und die
Kirche selbst ist ein Beispiel für diese feudale Organisation. (*)
(*) Der Feudalherr befindet sich in seiner Beziehung zum König und zum
Volk in einer ähnlichen Situation wie der Bischof im Verhältnis zum Papst und
den Gläubigen. Sowohl der Feudalherr als auch der Bischof regieren mit eigener,
nicht nur delegierter Autorität. Beide sind innerhalb ihrer jeweiligen
Gerichtsbarkeiten wahre Fürsten, in deren Händen alle Machtfunktionen liegen.
Keiner von beiden ist jedoch souverän, da sie ihre Autorität unter der
Souveränität einer höheren Macht ausüben. Diese feudale Verfassung der Kirche
wurde ihr von Jesus Christus selbst gegeben.
Wie steht es mit der Verurteilung des Patriarchats, also des auf
Familienleben basierenden Wirtschaftslebens? Und was den „guten Chef“ betrifft,
so sollte man bedenken, dass es auf der Erde immer Arbeiter und Chefs geben
wird, sofern nicht die vom Sozialismus gepredigte klassenlose Gesellschaft
angenommen wird. Wenn der Chef also ein ständiger Faktor des Problems ist,
warum sollte man ihn dann lieber „schlecht“ oder „gleichgültig“ vorziehen?
Zeichen der Zeit. In normalen Zeiten wäre eine solch seltsame
Interpretation der Worte des Stuhls der Wahrheit unmöglich: Gott hat die Welt
durch die materielle Schöpfung aus dem physischen Chaos und durch die Erlösung
aus dem moralischen Chaos herausgeführt. Doch die Menschheit arbeitet in die entgegengesetzte
Richtung. Die Welt ist durch die Wasserstoffbombe von materieller Zerstörung
bedroht. Sie ist auch durch die immer größer werdenden Sünden der Menschheit
von moralischer Zerstörung bedroht. Wir sind zum Chaos, zur Verwirrung
zurückgekehrt. Tohu-Wabohu.
Aus dem portugiesischen von „Tohu-Vabohu“,
Catolicismo Nr. 1, Januar 1951.
Die
deutsche Fassung dieses Artikels ist erstmals erschienen in
http.www.p-c-o.blogspot.com
© Veröffentlichung dieser deutschen Fassung ist mit
Quellenangabe dieses Blogs gestattet.
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