Freitag, 8. August 2025

Tohu Wa'bohu

 NOVA ET VETERA

José de Azeredo Santos

In gewissen katholisch-Intellektuellen Kreisen besteht die Tendenz, nur das Positive zu betrachten. Sie verabscheuen Verurteilungen, Exkommunikationen und Anathemas. Sie erklären beispielsweise, dass der „Syllabus“ von Pius IX. trotz aller gegenteiligen Beweise äußerst positiv und affirmativ sei. Und selbst in jüngster Zeit gab es diejenigen, die bei der Diskussion des Dokuments, in dem der Heilige Stuhl Rassismus verurteilte, alle Aussagen lieber in eine positive Form übersetzten, um ihren Lesern die Angelegenheit besser zu erklären…

Wir sehen keinen Grund, dieser sogenannten „konstruktiven“ oder „positiven“ Strömung zu folgen, ebenso wie wir das systematische Verharren in Negativität oder Destruktivität als bloßen Extremismus betrachten. Der göttliche Meister sagte einst: „Euer Ja sei ein Ja und euer Nein ein Nein.“ Es gibt Zeiten, in denen man bekräftigen und aufbauen muss. Aber es gibt auch Zeiten, in denen man leugnen und zerstören muss. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, wann man dafür oder dagegen ist.

Mit großer Überraschung lasen wir die Aussage von Herrn Alceu de Amoroso Lima, wonach der Heilige Vater Pius XII. den wirtschaftlichen Feudalismus und das Patriarchat verurteilt habe sollte. Diese Aussage fand in seiner Ansprache am 8. Juni 1950 vor den Mitgliedern des Internationalen Kongresses für Sozialstudien statt, der von der Universität Freiburg in Rom abgehalten wurde.

Der Heilige Vater geht in zwei Auszügen aus dieser Ansprache auf dieses Thema ein. Im ersten schreibt er: „Wer in den alten Industrieländern glaubte, dass es heute, wie vor einem Jahrhundert oder gar einem halben Jahrhundert, nur darum geht, dem von feudalen oder patriarchalischen Bindungen befreiten Lohnarbeiter (im französischen Originaltext: „dégagé des liens féodaux ou patriarcaux“) nicht nur rechtliche, sondern auch faktische Freiheit zu garantieren, der würde ein völliges Unverständnis für den Kern der aktuellen Situation zum Ausdruck bringen. Seit Jahrzehnten hat sich in den meisten dieser Länder, oft unter dem entscheidenden Einfluss der katholischen Sozialbewegung, eine Sozialpolitik herausgebildet, die durch eine fortschreitende Entwicklung des Arbeitsrechts und damit einhergehend durch die Unterwerfung des privaten Eigentümers, der die Produktionsmittel besitzt, unter rechtliche Verpflichtungen zugunsten des Arbeiters gekennzeichnet ist.“

Der Papst kommt später wie folgt auf das Thema zurück:

– „Was die Länder betrifft, in denen nun eine Industrialisierung ins Auge gefasst wird, so können wir die Bemühungen der kirchlichen Autoritäten nur loben, Bevölkerungen zu verschonen, die bisher unter ein patriarchalisches oder gar feudales Regime, insbesondere in heterogenen Siedlungen, daran zu hindern, die unverschämten Versäumnisse des Wirtschaftsliberalismus des letzten Jahrhunderts zu wiederholen.“

Herr Tristão de Ataíde kommentierte und interpretierte diese beiden Auszüge aus der päpstlichen Ansprache im „Diário“ Belo von Horizonte vom 20. August 1950 wie folgt:

„Dieser Text ist die formelle Verurteilung des Wirtschaftsfeudalismus und des Patriarchats, sowohl in den alten Industrieländern als auch in Ländern, deren Industrialisierung gerade erst in Erwägung gezogen wird, ohne die Unmöglichkeit zu ignorieren, diese ersten Phasen manchmal zu überwinden.“

„Es ist eine Antwort auf diejenigen, die gegen den Wirtschaftshumanismus argumentieren, Brasilien sei für diese Erfahrungen noch nicht bereit. Dass es zunächst notwendig sei, Geld zu produzieren und zu verdienen. Und dann später über soziale Gerechtigkeit nachzudenken.“ Der Papst sagt genau das Gegenteil. Sowohl in alten Industrieländern wie England oder Deutschland als auch in Schwellenländern wie Brasilien oder Argentinien müssen die feudalen und patriarchalen Phasen sofort überwunden oder korrigiert werden, um eine Humanisierung der Wirtschaft zu erreichen, die sich konkret in einer „fortschreitenden Entwicklung der Arbeitsrechte und entsprechend der Unterordnung des privaten Eigentümers, der die Produktionsmittel kontrolliert, unter gesetzliche Verpflichtungen zugunsten des Arbeiters“ niederschlägt. Diejenigen in Brasilien, die sich beispielsweise Herrn Getúlio Vargas widersetzen, tun dies nicht, weil er droht, der Republik von 1946 das anzutun, was Louis Napoleon der Republik von 1948 in Frankreich oder Getúlio selbst der brasilianischen Demokratie von 1934 angetan hat, sondern weil er Sozialgesetze verfasst hat, die dem brasilianischen Arbeiter, wie Gustavo Corção sagte, „das Bewusstsein gaben, dass es sie bereits gibt“. Diejenigen, die in diesen Situationen sind, fallen unter die Verurteilung der präzisen Worte von Pius XII. Feudalismus und Patriarchat sind keine Lösungen. Sie sind ein Rückschritt oder Routine. Der „gute Chef“ sei ein „veraltetes“ Konzept. Die „fortschreitende Entwicklung der Arbeitnehmerrechte“ und die „rechtlichen Verpflichtungen des Eigentümers gegenüber dem Arbeitnehmer haben den wirtschaftlichen Feudalismus und das Patriarchat ersetzt.“

Wie man leicht erkennen kann, begeht Herr Tristão de Ataíde eine bedauerliche Verwechslung der sehr klaren Worte Pius XII. Der Heilige Vater verurteilt nicht Feudalismus und Patriarchat, sondern den Wirtschaftsliberalismus. Er erinnert lediglich an die historische Phase, in der die Gesellschaft aus einem patriarchalischen, durch das korporativistische Regime gekennzeichneten Zustand hervorging und in die Irrtümer des Wirtschaftsliberalismus verfiel, die typisch für das neue Industriezeitalter des letzten Jahrhunderts waren. Der zweite Abschnitt ist noch deutlicher: Der Papst lobt die Bemühungen der kirchlichen Autoritäten, die Bevölkerungen, die bisher unter einem patriarchalischen oder gar feudalen Regime leben, vor der Wiederholung der unverschämten Versäumnisse des Wirtschaftsliberalismus des letzten Jahrhunderts zu bewahren. Das bedeutet, dass die „unverschämten Versäumnisse des Wirtschaftsliberalismus des letzten Jahrhunderts“ nicht mit Patriarchat oder Feudalismus verwechselt werden dürfen, da die Länder, die jetzt mit der Industrialisierung beginnen, davon noch verschont bleiben. Und der Heilige Vater möchte gerade diesen Bevölkerungen die Plagen des Wirtschaftsliberalismus ersparen, denen die Länder im Übergang zum modernen Industriesystem im letzten Jahrhundert ausgesetzt waren. Das bedeutet, dass beim Übergang vom feudalen oder patriarchalen Regime zum Industriezeitalter die Fehler des Wirtschaftsliberalismus vermieden werden müssen, die in anderen Regionen vor hundert oder selbst fünfzig Jahren in diesem Übergangsprozess auftraten.

Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir ein Beispiel vor Augen, auf das der Heilige Vater den Schwerpunkt legen wollte. Zu den kleinen Manufakturen, die aufgrund des patriarchalen Regimes entstanden, gehörte die Handwerkskunst, die aus der mittelalterlichen Wirtschaftsordnung ererbt wurde. In Nordschottland gab es unter den kleinen Manufakturen, die aufgrund des patriarchalen Regimes entstanden, die Heimproduktion von Tweed, einem handgewebten Stoff, der wegen seiner hervorragenden Qualität hochgeschätzt wurde. Mit der Entstehung großer Textilfabriken, die zwar ein minderwertiges, aber dank der Einführung mechanischer Webstühle auch billigeres Produkt herstellten, starb diese kleine Heimindustrie, die einst die Quelle des Wohlstands für eine ganze Region gewesen war, allmählich aus. Heute sind diese Handwerker und Weber, die die wahre Freiheit der Kinder Gottes genossen, dem anonymen Proletariat der großen Industriestädte zugeführt wurden.

Es wäre ein klarer Widerspruch, wenn der Heilige Vater Pius XII., der ständig die Notwendigkeit predigt, kleinen und mittleren Besitz „in der Landwirtschaft, im Kunsthandwerk, im Handel und in der Industrie“ zu gewährleisten und zu fördern, das patriarchalische und feudale Regime verurteilen würde, in dem das Handwerk und die Diversifizierung des Wirtschaftslebens eine hervorragende Blütezeit erlebten.

Wenn Pius XII. von der Auflösung der feudalen oder patriarchalischen Bindungen spricht, denen die Arbeiter vor dem Industriezeitalter unterworfen waren, will er damit keineswegs Feudalismus oder Patriarchat verurteilen, ebenso wenig wie die Aussage, dass das Eheband durch den Tod eines Ehepartners aufgelöst wird, eine Verurteilung der Ehe impliziert. Der Papst bezieht sich auf die Einführung der viel gepriesenen Arbeitsfreiheit, die durch Turgots Edikt dem korporativistischen System den Todesstoß versetzte, und auf die praktischen Konsequenzen, die sich daraus in der Zeit nach der Französischen Revolution ergaben: Sie zerstörten die Abwehrmechanismen der Arbeiter und gewährten ihnen die armselige Freiheit, ihre Arbeitskraft zu Preisen zu verkaufen, die sich nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage richteten. Gleichzeitig war es den Arbeitgebern freigestellt, nach eigenem Ermessen Männer, Frauen, Alte und Kinder als Arbeitskräfte einzustellen.

Das war die Situation, die Leo XIII. zeichnete und an welche Pius XII. jetzt erinnerte: „Nachdem die alten Arbeiterzünfte im letzten Jahrhundert zerstört worden waren und an ihrer Stelle kein Schutz mehr bestand, weil die öffentlichen Institutionen und die Gesetze der Religion unserer Väter abgeschafft worden waren, kam es nach und nach dazu, dass die Arbeiter sich aufgrund der Zeitverhältnisse, der Unmenschlichkeit ihrer Herren und der ungezügelten Gier ihrer Konkurrenten allein und schutzlos wiederfanden.“ (Enzyklika „Rerum Novarum“).

Es ist allgemein bekannt, dass das korporativistische System auf seinem Höhepunkt die Frucht der vom Feudalismus geschaffenen Gesellschaftsordnung war. Dies trifft insofern zu, als der Niedergang der Korporationen mit dem Niedergang des Feudalismus zusammenfiel. Unter den zentralistischen und absolutistischen Regierungen, die aus den Ruinen des Feudalismus entstanden, wurden durch die Zerstörung des Einflusses des Adels auch Wahlrechte und öffentliche Freiheiten zerstört. Dieses allmähliche Verschwinden des korporativistischen Systems wurde mancherorts durch das direkte Eingreifen totalitärer Despoten beschleunigt, ein Produkt der Renaissance, beispielhaft dargestellt durch Heinrich VIII. in England. Er versetzte den Zünften des alten Albion einen tödlichen Schlag, indem er ihren Besitz mit der Begründung konfiszierte, sie seien Brutstätten des Aberglaubens. Das merkantilistische System sei besser an den staatlichen Absolutismus angepasst, und schon vor Hitler, Mussolini und Stalin griffen zentralistische Regierungen wie die Frankreichs und Preußens entsprechend der politischen und oligarchischen Zweckmäßigkeit des königlichen Absolutismus in die Angelegenheiten der Korporationen ein. Damit war der Weg für den heutigen Totalitarismus geebnet, dessen Zwischenstadium der Liberalismus war.

Kurz gesagt: Pius XII. verurteilte weder Feudalismus noch Patriarchat, noch wollte er den „guten Chef“ als überholtes Konzept bezeichnen – was in gewisser Weise einem Verdammen des großen Le Play gleichkäme. Der Feudalismus ist eine soziale und politische Organisation, die auf bestimmten historischen Umständen beruht, die sich höchstwahrscheinlich wiederholen werden, und die Kirche selbst ist ein Beispiel für diese feudale Organisation. (*)

(*) Der Feudalherr befindet sich in seiner Beziehung zum König und zum Volk in einer ähnlichen Situation wie der Bischof im Verhältnis zum Papst und den Gläubigen. Sowohl der Feudalherr als auch der Bischof regieren mit eigener, nicht nur delegierter Autorität. Beide sind innerhalb ihrer jeweiligen Gerichtsbarkeiten wahre Fürsten, in deren Händen alle Machtfunktionen liegen. Keiner von beiden ist jedoch souverän, da sie ihre Autorität unter der Souveränität einer höheren Macht ausüben. Diese feudale Verfassung der Kirche wurde ihr von Jesus Christus selbst gegeben.

Wie steht es mit der Verurteilung des Patriarchats, also des auf Familienleben basierenden Wirtschaftslebens? Und was den „guten Chef“ betrifft, so sollte man bedenken, dass es auf der Erde immer Arbeiter und Chefs geben wird, sofern nicht die vom Sozialismus gepredigte klassenlose Gesellschaft angenommen wird. Wenn der Chef also ein ständiger Faktor des Problems ist, warum sollte man ihn dann lieber „schlecht“ oder „gleichgültig“ vorziehen?

Zeichen der Zeit. In normalen Zeiten wäre eine solch seltsame Interpretation der Worte des Stuhls der Wahrheit unmöglich: Gott hat die Welt durch die materielle Schöpfung aus dem physischen Chaos und durch die Erlösung aus dem moralischen Chaos herausgeführt. Doch die Menschheit arbeitet in die entgegengesetzte Richtung. Die Welt ist durch die Wasserstoffbombe von materieller Zerstörung bedroht. Sie ist auch durch die immer größer werdenden Sünden der Menschheit von moralischer Zerstörung bedroht. Wir sind zum Chaos, zur Verwirrung zurückgekehrt. Tohu-Wabohu.

 

 

 

Aus dem portugiesischen von „Tohu-Vabohu“, Catolicismo Nr. 1, Januar 1951.

Die deutsche Fassung dieses Artikels ist erstmals erschienen in
http.www.p-c-o.blogspot.com

© Veröffentlichung dieser deutschen Fassung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

 

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