von Plinio Corrêa de Oliveira
„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei
den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe des Herrn Engel trat
zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich
sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige
euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der
Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr“ (Lk 2,8-11).
Zu mitternächtlicher Stunde hatte die Dunkelheit ihren
Höhepunkt erreicht. Über den Herden ringsum lag Ungewissheit, Gefahr. Von der
Müdigkeit übermannt, war der eine oder andere Hirte sogar eingenickt. Andere
aber ließen Eifer und Pflichtbewusstsein nicht schlafen. Sie wachten.
Wahrscheinlich beteten sie auch, dass Gott die lauernden Gefahren von ihnen
fernhalten möge.
* * *
Plötzlich erschien ihnen ein Licht und „die Klarheit
des Herrn leuchtete um sie“. Die Angst vor Gefahren löste sich auf. Und es
wurde ihnen die Lösung aller Probleme und Gefahren verkündet. Doch vielmehr
als die Probleme und Gefahren einiger armen Herden oder ein Häuflein Hirten.
Vielmehr als die Probleme und Gefahren, die die weltlichen Interessen ständig
bedrohen. Ja, es wurde ihnen die Lösung der Probleme und Gefahren verkündet,
die das bedrohen, was der Mensch am wertvollsten und edelsten besitzt:
seine Seele. Probleme und Gefahren, die
nicht die Güter dieses Lebens bedrohen, die früher oder später vergehen werden,
sondern das ewige Leben, in das der Erfolg wie die Niederlage kein Ende haben
werden.
Ohne den Anspruch eine Exegese dieses heiligen Textes
machen zu wollen, komme ich nicht umhin anzumerken, dass diese Hirten, ihre
Herden und die Dunkelheit uns die Lage der Welt am ersten Weihnachtsfest in
Erinnerung rufen.
Zahllose Geschichtsquellen aus jener fernliegenden Zeit
berichten von einem weitverbreiteten Gefühl unabwendbaren Missgeschicks,
herbeigeführt durch das wirre Zusam-menspiel misslicher Probleme, aus denen es
keinen Ausweg mehr zu geben schien, eine Endstation mit Aussicht allein auf
Chaos und Vernichtung.
Wenn die damaligen Menschen den Weg betrachteten, den sie seit den ersten Tagen auf dieser Erde bis
dann zurückgelegt hatten, konnten sie verständlicherweise einen gewissen Stolz
verspüren. Sie hatten einen Höhepunkt der Kultur, des Reichtums und der Macht
erreicht. Wie weit waren die großen Völker des Jahres 1 unserer Zeitrechnung –
vor allem die römische Supermacht – entfernt von den primitiven Völkern, die
durch die Weiten umherirrten, der Barbarei anheimgefallen waren und von allen
möglichen feindlichen Faktoren gegeißelt wurden. Allmählich bildeten sich die
Nationen, sie nahmen ein eigenes Gesicht an, brachten eigene Kulturen und
Institutionen hervor, bauten Straßen, begannen mit der Seefahrt und
verbreiteten überall die Früchte ihrer Arbeit. Es gab wohl auch Missbrauch und
Unordnung. Die Menschen bemerkten dies aber nicht so recht, denn jede Generation
leidet unter einer außerordentlichen Gefühllosigkeit für die Übel ihrer Zeit.
Das schlimmste an dieser Lage der alten Welt war nicht
das Fehlen irgendwelcher Dinge. Im großen und ganzen hatten die Menschen, was
sie brauchten. Aber nachdem sie hart um die Mittel zum Glück gekämpft hatten,
wussten sie nichts damit anzufangen. Alles, was sie sich so lange und unter
größten Entbehrungen erwünscht hatten, hinterließ nun in ihrer Seele nichts als
eine ungeheure Leere. Ja, oft bedrückte es sie sogar. Denn Macht und Reichtum,
aus denen man keinen Nutzen zu ziehen versteht, machen nur Arbeit und bringen
Sorgen.
* * *
Dunkelheit lag also über die Menschheit. – Und was taten
die Menschen in dieser Dunkelheit? – Sie taten das, was sie immer tun, wenn es
Nacht wird: Die einen laufen den Ausschweifungen nach, andere geben sich dem
Schlaf hin. Wieder andere aber – und es sind ihrer nur wenige! – machen es wie
die Hirten: Sie wachen und halten Ausschau nach den Feinden, die aus dem Dunkel
heraus angreifen. Sie halten sich bereit zum harten Widerstand. Ihre Augen
hängen am dunklen Himmel, und sie beten. In ihrer Seele trösten sie sich mit
der Gewissheit, dass endlich die Sonne wiederkehren wird, um die Dunkelheit zu
vertreiben und mit ihr all die Feinde, denen die Nacht Unterschlupf gewährte
und Anreiz zum Verbrechen war.
* * *
Unter den Millionen Menschen jener vergangenen Zeiten,
die sich unter der Last müßiger Kultur und unnützen Überflusses abquälten, gab
es auch Auserwählte, die ein Auge hatten für all den Sittenverfall, das
Unglaubwürdige dieser Ordnung, die den Menschen umzingelnden Gefahren und vor
allem auch für die Sinnlosigkeit all dieser auf Götzendienst fußenden Kulturen.
Diese außerordentlichen Geister kannten nicht unbedingt
eine besondere Bildung oder eine hervorragende Intelligenz als ihr eigen. Der
Scharfsinn, der es einem Menschen erlaubt, die großen Zusammenhänge, die großen
Krisen und ihre großen Lösungen zu erkennen, ist ja nicht unbedingt das
Ergebnis eines durchdringenden Verstandes, vielmehr kommt es dabei auf die
Redlichkeit der Seele an.
So erkannten die redlichen Menschen sehr wohl die Lage,
denn für sie ist Wahrheit Wahrheit und Irrtum ist Irrtum; das Gute ist für sie
gut, und das Schlechte ist schlecht. Ihre Seele lässt sich nicht von der
Ordnungslosigkeit ihrer Zeit anstecken, sie lassen sich nicht vom Spott und
Ausgestoßensein einschüchtern, mit denen die Welt den Nichtkonformisten begegnet.
Von dieser Art waren diese seltenen und ein wenig überall verstreuten Seelen,
die da in der Nacht wachten, beteten, kämpften und auf Rettung hofften, es
waren Herren und Diener darunter, Greise und Kinder, Weise und des Schreibens
und Lesens Unkundige.
Und die Rettung erschien zuerst den treuen Hirten. Aber
dann, nach all dem Geschehen, von dem uns die Evangelien berichten, strömte sie
auch hinaus über die engen Grenzen Israels und erschien als das große Licht für
all diejenigen auf der ganzen Welt, die sich nicht mit der Flucht in
Ausschweifungen oder mit einem stupiden Schlafzustand begnügen wollten.
Als Jungfrauen, Kinder und Greise, Hauptmänner, Senatoren
und Philosophen, Sklaven, Witwen und Machtinhaber sich zu bekehren begannen ,
fiel über sie die Zeit der Verfolgungen. Doch keine Gewalt konnte sie brechen.
Und als sie in der Arena dem Kaiser, den johlenden Massen und den Tieren mit
Stolz gegenübertraten, sangen die Engel des Himmels: Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind.
Diesen himmlischen Gesang hörte kein Ohr, doch er rührte
die Seelen. Das Blut dieser sanften und unbeugsamen Helden verwandelt sich so
in Samen neuer Christen.
Die alte Welt der Anbeter des Fleisches, des Goldes und
der Götzen starb dahin. Eine neue Welt zog herauf, gestützt auf Glauben,
Reinheit, Enthaltsamkeit und Hoffnung auf das Himmelreich.
Unser Herr Jesus Christus wird alles lösen.
* * *
Gibt es heute echte Menschen guten Willens, die in der
Finsternis wachen, anonyme Kämpfer, die ihren Blick zum Himmel richten und mit
unzerstörbarer Sicherheit auf das Licht warten, das wiederkommen wird?
Ja, es gibt sie, genau so wiwe zur Zeit der Hirten. Diesen
echten Menschen guten Willens, diesen wahren Nachfolgern der Hirten von Bethlehem
sage ich, sie mögen die Worte des Engels wie an sie gerichtet verstehen:
„Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude, die allem
Volk widerfahren wird“.
Es sind prophetische Worte, die in den
Verheißungen Marias in Fatima widerklingen. Es kann der Kommunismus seine Irrtümer
überall verbreiten, den Gerechten Leiden zufügen, am Ende aber – prophezeite
die Mutter Gottes in der Mulde von Iria – wird Ihr „unbeflecktes Herz
triumphieren“.
Dieses große Licht wünsche ich als kostbares Weihnachtsgeschenk
allen Lesern, vor allem aber allen Menschen echten guten Willens.
(Freie Übersetzung aus „Folha
de S. Paulo“ 26.12.71)
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