Das Primat der Heiligkeit
Plinio Corrêa de Oliveira
Für mich ist es unbestreitbar, dass, wenn in unserer
materialisierten und verdorbenen Zeit ein hl. Franz von Assisi wieder
erscheinen würde, würde seine Persönlichkeit den Menschen weltweit viel
definitiver und schneller imponieren als es je in vergangenen Zeiten der Fall
gewesen wäre.
Sicher war das tugendhafte, von katholischem Geist tief
durchdrungene Mittelalter, eher in der Lage den großen stigmatisierten von
Assisi zu verstehen.
Man muss jedoch bedenken, dass durch den katholischen
Geist selbst und seine Verbreitung unter allen sozialen Schichten, das
Verlangen nach Tugend weniger stark war, weil die Seelen zum Teil von ihr
gesättigt waren, als in den trostlosen Tagen, in denen wir heute leben.(1)
Der Mensch — sagte ein heidnischer Schriftsteller — ist
ein gefallener Engel. Und je mehr auch in ihm die Laster und Fehler des
Verfalls herrschen, spürt er in seinem Herzen, bewusst oder unbewusst, eine
große Sehnsucht nach dem Himmel.
Erforscht man mit aller Vorsicht irgendein menschliches
Herz, sei es das eines Heiligen, eines Weisen, eines Unwissenden oder eines
Häftlings, wird man das Vorhandensein von mehr oder weniger tiefen Gefühlen,
die sich nach einem großen Ideal von Reinheit und Heiligkeit sehnen.
Solange die christliche Zivilisation lebte, war das Leben
geprägt von Selbstlosigkeiten, die zu einer allgemeinen Glückserfahrung
beitrug.
Als der Katholizismus als höchster Regler der Beziehungen
zwischen Menschen und Völker verstoßen wurde, verkam das Leben in Egoismen, die
sich gegeneinander bekämpften. Daher der „homo homini lupus“ (2)
Der tierische Teil des Menschen kann zeitlich die
Äußerungen seines englischen (geistlichen) Teils ersticken. Nie jedoch kann er
sie radikal zerstören.
Und je mehr der Mensch unter seiner selbst fällt, wird er
doch immer den unwiderstehlichen Einfluss der Heiligkeit wahrnehmen, der seine
Leidenschaften dämpft und die Tyrannei der Laster abschwächt, so wie eine Musik
des Orpheus die wilden Tiere zähmte.
Dies sind die Gedanken, zu denen mich das 25jährige
Jubiläum von Msgr. Pedrosa als Pfarrer von Sta. Cäcilia anregen.
Die Kirche Sancta Caecilia in São Paulo, 1947 |
Ich kenne Leute, die ihm tiefe Freundschaft und Verehrung
erweisen, nach einem kurzen Kontakt im Beichtstuhl.
Andere wären bereit ihr Leben und ihr Vermögen zu opfern
ohne selbst die Anwandlung einer Diskussion, wenn dieses Opfer ihnen von
Monsignore auferlegt worden wäre.
Griechen und Trojaner, Gläubige und Ungläubige sind sich
einig in der Feier seiner ungewöhnlichen Tugend.
Selbst Personen, die behaupteten überhaupt keine
katholischen Überzeugungen in ihrem Innern zu haben, erweisen dem Pfarrer mit
einem nicht erklärbaren Widerspruch ihre aufrichtigste Verehrung und erkennen
in ihm die echte Personifizierung der Tugend.
Unter den vielen Kommentaren, die sich über den Pfarrer
bei den gegenwärtigen Feierlichkeiten vernehmen lassen, wollte ich diesen
merkwürdigen Aspekt seiner Tätigkeiten als Pfarrer hervorheben. Es ist eines
der vielen Lehren seines unzerbrechlichen Seelenadels, die er uns gibt.
Sie bestätigt den unbestreitbaren Einfluss der Heiligkeit
auf den Menschen.
Und es kommt mir in Erinnerung die Schlussfolgerung, die
Tristão de Athayde in seinen Vorträgen über das Problem des Bürgertums setzte:
Brasilien und die Welt brauchen keine Weisen und Helden; sie brauchen
Heilige...
* * *
(1) Der Autor benutzt hier den Ausdruck „dürsten nach
Tugend“ im Sinne des „Gefühls, dass es an Tugend mangelt“, das heute größer ist
als im Mittelalter.
(2) „Der Mensch ist des Menschen Wolf“
Freie Übersetzung aus O „Legionário“ Nr. 96, 21.4.1932.
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