Dienstag, 23. Juni 2015

Philosophisches Selbstbildnis II

Krisen haben ihren Ursprung nicht im Kopf eines Denkers, sondern in ungezügelten, von den Gewalten der Finsternis geschürten Begierden

   Es gibt Menschen, die glauben, Kultur- und Zivilisationskrisen hätten ihren Ursprung stets im Kopfe eines Denkers, von dessen kraftvollem Geist der klärende — oder zerstörerische — Funke ausgehe, der anfangs auf die kulturellen Eliten überspringe, um sich schließlich über den ganzen gesellschaftlichen Körper zu verbreiten. Manche Krisen entstanden wirklich auf diese Weise. Die Geschichte bestätigt jedoch keinesfalls, dass alle Krisen so entstanden sind. Und vor allem hat jene Krise, die schließlich zum Niedergang des Mittelalters und den Humanismus, die Renaissance und den protestantischen Reformation hervorbrachte, bestimmt nicht so ihren Anfang genommen.
   Schon allein die Tatsache, dass die Kirche dem Menschen eine für die menschliche Natur beschwerliche sittliche Strenge abverlangt, führt dazu, dass ihr Einfluss auf jede Seele, jedes Volk, jede Kultur und jede Zivilisation ständig bedroht ist. Die ungezügelten, durch das außernatürliche Wirken der Mächte der Finsternis geschürten Begierden treiben Menschen und Völker ohne Unterlass zum Bösen. Die Schwäche des menschlichen Verstandes kann von diesen Tendenzen ausgenutzt werden. Der Mensch erfindet nur zu gern Trugschlüsse, um damit schlechte Handlungen zu rechtfertigen, die er zu begehen gedenkt oder bereits begeht, ebenso wie schlechte Sitten, die er sich aneignet oder bereits angeeignet hat. Paul Bourget hat einmal gesagt: „Man muss so leben, wie man denkt, sonst denkt man früher oder später darüber nach, wie man gelebt hat.“(6)

(6) Le Démon du Midi, Bd. II, S. 375. Plon, Paris 1914.
  
Hochmut und Sinnlichkeit: Ihre überragende Bedeutung im Verlauf der Rebellion gegen die Kirche

   Zwei Begierden sind es, die im besonderen Maße die Rebellion des Menschen gegen die Sitte und den christlichen Glauben hervorrufen können: der Hochmut und die Sinnlichkeit.
   Der Hochmut veranlasst ihn dazu, jedwede Überlegenheit in einem anderen abzulehnen, und weckt in ihm eine leicht in Paroxysmus ausartende Gier nach Macht und Befehlsgewalt. Alle Unbeherrschtheit strebt letztendlich auf einen Paroxysmus zu. In seinem paroxystischen Zustand nimmt der Hochmut jede Art von metaphysischem Kolorit an: Er begnügt sich nicht mehr damit, konkret diese oder jene Obrigkeit oder hierarchische Struktur zu erschüttern, es geht ihm vielmehr um die Abschaffung jeder Art von Obrigkeit, in welchem Bereich es diese auch geben mag. Nur die umfassende, komplette Gleichheit erscheint ihm erträglich und wird daher zum höchsten Kriterium aller Gerechtigkeit. Auf diese Weise bringt der Hochmut schließlich seine eigene Moral hervor. Und im Kern dieser hochmütigen Moral verbirgt sich ein metaphysisches Prinzip: Die Seinsordnung fordert die Gleichheit, und alles Ungleiche ist ontologisch gesehen schlecht.
   Die absolute Gleichheit ist für den, den wir den vollständig Hochmütigen nennen würden, der höchste Wert, dem sich alles Andere zu unterordnen hat.
   Eine weitere Begierde von wesentlicher Bedeutung im Verlauf der Rebellion gegen die Kirche ist die Unzucht. An sich führt sie zur Zügellosigkeit und veranlasst den Menschen, jede Art von Gesetz mit Füßen zu treten und jede Beschränkung weit von sich zu weisen. Ihre Auswirkungen summieren sich zu denen des Hochmütigen und veranlassen den menschlichen Geist zu allerlei Sophismen, die schließlich das Autoritätsprinzip überhaupt in seinem Kern untergraben.
   Daher führt die von Hochmut und Sinnlichkeit ausgelöste Tendenz zur Abschaffung aller Ungleichheit, aller Autorität und aller Hierarchie.
  
Zwei entgegengesetzte Vorgänge:
Während der Glaube zur Liebe gegenüber der Hierarchie einlädt, führt der Sittenverfall zum Egalitarismus der Anarchie

Selbst wenn der Mensch vor ihnen kapituliert, können die ungezügelten Leidenschaften selbstverständlich in der Seele oder im Geiste eines Volkes auf Gegengewichte in Form von Überzeugungen, Traditionen usw. stoßen.
   In diesem Fall sieht sich die Seele oder Mentalität eines Volkes zwischen zwei einander entgegengesetzten Polen geteilt: Auf der einen Seite steht der Glaube, der zu Sittenstrenge, Bescheidenheit, Liebe zu aller legitimen Hierarchie einlädt; auf der anderen Seite steht der Sittenverfall, der zum vollkommenen, im eigentlichen Wortsinn an-archischen Egalitarismus aufruft. Wie wir gleich sehen werden, verleitet der Sittenverfall schließlich zum religiösen Zweifel und zur völligen Ablehnung des Glaubens.
   In den meisten Fällen wird die Entscheidung zwischen diesen Polen nicht auf einmal, sondern schrittweise getroffen. Durch wiederholte Liebesbeweise gegenüber der Wahrheit und dem Guten kann ein Mensch oder ein Volk nach und nach in der Tugend fortschreiten und sich endlich ganz bekehren. Dies ist etwa im Römischen Reich unter dem Einfluss der christlichen Gemeinden, der Gebete der Gläubigen in den Katakomben und Einsiedeleien, des in der Arena an den Tag gelegten Heldentums und der im Alltag gezeigten Tugendbeispiele geschehen. Hierbei handelt es sich um einen aufsteigenden Vorgang.
   Doch kann es auch ein Niedergang sein. Infolge des Zusammenstoßes der ungezügelten Leidenschaften werden die guten Überzeugungen nach und nach untergraben, die guten Traditionen verlieren ihre Kraft, die guten Sitten werden durch anstößige Sitten ersetzt, die erst ins offen Tadelnswerte und endlich ins Skandalöse abgleiten.

Hauptelemente der Lehre von Revolution und Gegenrevolution:

   Demzufolge sind also dies, kurz zusammengefasst, die wichtigsten Punkte der Lehre, auf die sich Revolution und Gegenrevolution stützt:
   a) die Mission der Kirche als der einzigen Lehrerin, Führerin und Lebensquelle der Völker auf dem Weg zur vollkommenen Zivilisation;
   b) der ununterbrochene Kampf der ungezügelten Leidenschaften, vor allem des Hochmuts und der Zügellosigkeit, gegen den Einfluss der Kirche;
   c) das Vorhandensein gegensätzlicher Pole im menschlichen Geiste, zwischen denen er sich notwendigerweise entscheiden muss: einerseits der katholische Glaube, der die Liebe zu Ordnung, Sittenstrenge und Hierarchie fördert, und andererseits die ungezügelten Leidenschaften, die zu Liederlichkeit, zum Aufstand gegen das Gesetz, gegen die Hierarchie und gegen jede Form von Ungleichheit anregen und letztendlich zum Zweifel und zum völligen Abfall vom Glauben führen;
   d) der Begriff des Vorgangs, in dessen Verlauf sich Menschen und Völker – unbeschadet des freien Willens – von den genannten Polen angezogen fühlen und sich so allmählich dem einen nähern und vom andern entfernen;
   e) der Einfluss dieses moralischen Prozesses auf die Entstehung von Philosophien. Die schlechten Tendenzen schaffen eine Neigung zum Irrtum, die guten, zur Wahrheit. Die großen Veränderungen im Geist der Völker sind nicht einfach das Ergebnis von Philosophien, die im kleinen Kreis von Intellektuellen aufgestellt wurden, die am Rande des Lebens dahinwirken. Damit eine Lehre im Volke Widerhall findet, ist es gewöhnlich notwendig, dass die Tendenzen des jeweiligen Volkes dieser Lehre ähnlich sind. Und nicht selten werden die Gedanken der Gelehrten mehr von den Neigungen der Umwelt beeinflusst, in der sie leben, als man denkt.
  
Einige grundlegende Definitionen:
Ordnung, Revolution, Gegenrevolution

   Vom Gesagten ausgehend, fällt es leicht einige Begriffe zu definieren:
   1. Ordnung ist nicht einfach die methodische und praktische Verteilung der materiellen Dinge, sondern nach dem thomistischen Verständnis die rechte Verfügung der Dinge nach ihrem naheliegenden und entfernten, physischen und metaphysischen, natürlichen und übernatürlichen Zweck;
   2. Revolution ist nicht im Wesentlichen ein Straßenaufstand, eine Schießerei oder ein Bürgerkrieg, sondern alle Anstrengung, die die Menschen gegen die Ordnung aufwiegeln will;
   3. Gegenrevolution ist jede Anstrengung zur Eingrenzung und Beseitigung der Revolution.

Revolution A – tendenziell und sophistisch;
Revolution B – in den Gesetzen, Strukturen, Institutionen und Sitten

   Man kann also sehen, dass sowohl die Ordnung als auch die Revolution und die Gegenrevolution a) in den Tendenzen, b) in den Ideen, und c) in den Gesetzen, in den Strukturen, in den Institutionen und den Sitten vorhanden sein können.
   So nenne ich die Revolution tendenziell, wenn sie in den Tendenzen zum Ausdruck kommt. Und ich nenne sie sophistisch, wenn sie sich im Hauch der Tendenzen auf dem Gebiet der Lehren ausbreitet.
   Diese beiden Arten von Revolution bilden ein eminent geistiges Phänomen, was besagt, dass sich ihr Aktionsfeld auf die menschliche Seele und die Mentalität der Gesellschaft erstreckt. Sie bilden demnach ein Ganzes, das ich die Revolution A nenne.
   Wenn die Revolution aus dem Innern der Seelen hervorbricht und zur Tat schreitet, wenn sie geschichtliche Umwälzungen verursacht sowie Gesetze, Strukturen, Einrichtungen usw. in Unordnung bringt, dann wird sie zu dem, was ich die Revolution B nenne.
   Die hier in aller Kürze dargestellten Begriffe müssen natürlich mit einer Reihe von Vorbehalten und Ausnahmen versehen werden, die ich zwar in „Revolution und Gegenrevolution“ vorbringe, hier aber nicht weiter erklärt werden können.
   Ich beschränke mich, darauf hinzuweisen, dass ich mit diesem Umriss des Wesentlichen in der Geschichte keineswegs behaupten möchte, dass sie darauf zu reduzieren sei. Die elementarste Beobachtung macht deutlich, dass der Lauf der Geschichte von zahllosen Faktoren bedingt wird, zu denen etwa die ethnischen, die geographischen und wirtschaftlichen zählen.

Wer die Gleichheit vertritt, wird wohl oder übel Einwände gegen den Glauben haben

   Es bleibt mir noch ein Wort zum Zusammenhang zwischen der absoluten, metaphysischen Gleichheit und dem Glauben zu sagen. Wer radikal gleichheitlich denkt, wird notgedrungen zahllose Einwände gegen die katholische Glaubenslehre vorzubringen haben.
   Die Begriffe eines persönlichen, vollkommenen und ewigen Gottes, der unendlich weit über den unvollkommenen und kontingenten (die der Hilfe bedürfen) Kreaturen steht; einer übernatürlichen Ordnung, die über das Natürliche hinausgeht; des gottgegebenen Gesetzes, dem zu gehorchen ist; der Offenbarung, die dem menschlichen Geist Wahrheiten zugänglich macht, die über seinem natürlichen Verständnisvermögen liegen; des unfehlbaren Lehramtes der Kirche; des monarchischen und aristokratischen Charakters ihres Aufbaus; alles, einschließlich des Gedankens von einem Gericht, das die Guten belohnt und die Bösen bestraft, stört den Gleichheitsgesinnten und veranlasst ihn zu einer ablehnenden Haltung.

   Der Katholik im Gegenteil lernt beim hl. Thomas von Aquin (Summa Theologica, I, q. 47, a 2), dass die Ungleichheit eine notwendige Voraussetzung für die Vollkommenheit der geschaffenen Ordnung ist. Daher sind Ungleichheit der Macht, des Wissens, der Klassenzugehörigkeit und des Vermögens im wesentlichen legitim und zur Erhaltung der rechten Ordnung unerlässlich, vorausgesetzt, dass sie nicht so weit gehen, dem Einzelnen seine Würde, seinen Lebensunterhalt und seine Sicherheit zu nehmen, auf die er als Mensch, durch seine Arbeit usw. einen Anspruch hat.

Fortsetzung folgt

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