Krisen haben ihren Ursprung nicht im Kopf eines Denkers,
sondern in ungezügelten, von den Gewalten der Finsternis geschürten Begierden
Es gibt
Menschen, die glauben, Kultur- und Zivilisationskrisen hätten ihren Ursprung
stets im Kopfe eines Denkers, von dessen kraftvollem Geist der klärende — oder
zerstörerische — Funke ausgehe, der anfangs auf die kulturellen Eliten
überspringe, um sich schließlich über den ganzen gesellschaftlichen Körper zu
verbreiten. Manche Krisen entstanden wirklich auf diese Weise. Die Geschichte
bestätigt jedoch keinesfalls, dass alle Krisen so entstanden sind. Und vor
allem hat jene Krise, die schließlich zum Niedergang des Mittelalters und den Humanismus,
die Renaissance und den protestantischen Reformation hervorbrachte, bestimmt
nicht so ihren Anfang genommen.
Schon allein die
Tatsache, dass die Kirche dem Menschen eine für die menschliche Natur
beschwerliche sittliche Strenge abverlangt, führt dazu, dass ihr Einfluss auf
jede Seele, jedes Volk, jede Kultur und jede Zivilisation ständig bedroht ist.
Die ungezügelten, durch das außernatürliche Wirken der Mächte der Finsternis
geschürten Begierden treiben Menschen und Völker ohne Unterlass zum Bösen. Die
Schwäche des menschlichen Verstandes kann von diesen Tendenzen ausgenutzt
werden. Der Mensch erfindet nur zu gern Trugschlüsse, um damit schlechte
Handlungen zu rechtfertigen, die er zu begehen gedenkt oder bereits begeht,
ebenso wie schlechte Sitten, die er sich aneignet oder bereits angeeignet hat.
Paul Bourget hat einmal gesagt: „Man muss so leben, wie man denkt, sonst denkt
man früher oder später darüber nach, wie man gelebt hat.“(6)
(6) Le Démon
du Midi, Bd. II, S. 375. Plon, Paris 1914.
Hochmut und Sinnlichkeit: Ihre überragende Bedeutung im
Verlauf der Rebellion gegen die Kirche
Zwei Begierden
sind es, die im besonderen Maße die Rebellion des Menschen gegen die Sitte und
den christlichen Glauben hervorrufen können: der Hochmut und die Sinnlichkeit.
Der Hochmut veranlasst
ihn dazu, jedwede Überlegenheit in einem anderen abzulehnen, und weckt in ihm
eine leicht in Paroxysmus ausartende Gier nach Macht und Befehlsgewalt. Alle
Unbeherrschtheit strebt letztendlich auf einen Paroxysmus zu. In seinem paroxystischen
Zustand nimmt der Hochmut jede Art von metaphysischem Kolorit an: Er begnügt
sich nicht mehr damit, konkret diese oder jene Obrigkeit oder hierarchische
Struktur zu erschüttern, es geht ihm vielmehr um die Abschaffung jeder Art von
Obrigkeit, in welchem Bereich es diese auch geben mag. Nur die umfassende,
komplette Gleichheit erscheint ihm erträglich und wird daher zum höchsten
Kriterium aller Gerechtigkeit. Auf diese Weise bringt der Hochmut schließlich
seine eigene Moral hervor. Und im Kern dieser hochmütigen Moral verbirgt sich
ein metaphysisches Prinzip: Die Seinsordnung fordert die Gleichheit, und alles
Ungleiche ist ontologisch gesehen schlecht.
Die absolute
Gleichheit ist für den, den wir den vollständig Hochmütigen nennen würden, der
höchste Wert, dem sich alles Andere zu unterordnen hat.
Eine weitere Begierde
von wesentlicher Bedeutung im Verlauf der Rebellion gegen die Kirche ist die
Unzucht. An sich führt sie zur Zügellosigkeit und veranlasst den Menschen, jede
Art von Gesetz mit Füßen zu treten und jede Beschränkung weit von sich zu
weisen. Ihre Auswirkungen summieren sich zu denen des Hochmütigen und
veranlassen den menschlichen Geist zu allerlei Sophismen, die schließlich das
Autoritätsprinzip überhaupt in seinem Kern untergraben.
Daher führt die
von Hochmut und Sinnlichkeit ausgelöste Tendenz zur Abschaffung aller
Ungleichheit, aller Autorität und aller Hierarchie.
Zwei entgegengesetzte Vorgänge:
Während der Glaube zur Liebe gegenüber der Hierarchie einlädt, führt der Sittenverfall zum Egalitarismus der Anarchie
Während der Glaube zur Liebe gegenüber der Hierarchie einlädt, führt der Sittenverfall zum Egalitarismus der Anarchie
Selbst wenn der Mensch vor ihnen kapituliert, können die
ungezügelten Leidenschaften selbstverständlich in der Seele oder im Geiste
eines Volkes auf Gegengewichte in Form von Überzeugungen, Traditionen usw. stoßen.
In diesem Fall
sieht sich die Seele oder Mentalität eines Volkes zwischen zwei einander
entgegengesetzten Polen geteilt: Auf der einen Seite steht der Glaube, der zu
Sittenstrenge, Bescheidenheit, Liebe zu aller legitimen Hierarchie einlädt; auf
der anderen Seite steht der Sittenverfall, der zum vollkommenen, im
eigentlichen Wortsinn an-archischen Egalitarismus aufruft. Wie wir gleich sehen
werden, verleitet der Sittenverfall schließlich zum religiösen Zweifel und zur
völligen Ablehnung des Glaubens.
In den meisten
Fällen wird die Entscheidung zwischen diesen Polen nicht auf einmal, sondern
schrittweise getroffen. Durch wiederholte Liebesbeweise gegenüber der Wahrheit
und dem Guten kann ein Mensch oder ein Volk nach und nach in der Tugend
fortschreiten und sich endlich ganz bekehren. Dies ist etwa im Römischen Reich
unter dem Einfluss der christlichen Gemeinden, der Gebete der Gläubigen in den
Katakomben und Einsiedeleien, des in der Arena an den Tag gelegten Heldentums
und der im Alltag gezeigten Tugendbeispiele geschehen. Hierbei handelt es sich
um einen aufsteigenden Vorgang.
Doch kann es
auch ein Niedergang sein. Infolge des Zusammenstoßes der ungezügelten
Leidenschaften werden die guten Überzeugungen nach und nach untergraben, die
guten Traditionen verlieren ihre Kraft, die guten Sitten werden durch anstößige
Sitten ersetzt, die erst ins offen Tadelnswerte und endlich ins Skandalöse
abgleiten.
Hauptelemente der Lehre von Revolution und
Gegenrevolution:
Demzufolge sind
also dies, kurz zusammengefasst, die wichtigsten Punkte der Lehre, auf die sich
Revolution und Gegenrevolution stützt:
a) die Mission
der Kirche als der einzigen Lehrerin, Führerin und Lebensquelle der Völker auf
dem Weg zur vollkommenen Zivilisation;
b) der
ununterbrochene Kampf der ungezügelten Leidenschaften, vor allem des Hochmuts und
der Zügellosigkeit, gegen den Einfluss der Kirche;
c) das
Vorhandensein gegensätzlicher Pole im menschlichen Geiste, zwischen denen er
sich notwendigerweise entscheiden muss: einerseits der katholische Glaube, der
die Liebe zu Ordnung, Sittenstrenge und Hierarchie fördert, und andererseits
die ungezügelten Leidenschaften, die zu Liederlichkeit, zum Aufstand gegen das
Gesetz, gegen die Hierarchie und gegen jede Form von Ungleichheit anregen und
letztendlich zum Zweifel und zum völligen Abfall vom Glauben führen;
d) der Begriff
des Vorgangs, in dessen Verlauf sich Menschen und Völker – unbeschadet des
freien Willens – von den genannten Polen angezogen fühlen und sich so
allmählich dem einen nähern und vom andern entfernen;
e) der Einfluss
dieses moralischen Prozesses auf die Entstehung von Philosophien. Die
schlechten Tendenzen schaffen eine Neigung zum Irrtum, die guten, zur Wahrheit.
Die großen Veränderungen im Geist der Völker sind nicht einfach das Ergebnis
von Philosophien, die im kleinen Kreis von Intellektuellen aufgestellt wurden,
die am Rande des Lebens dahinwirken. Damit eine Lehre im Volke Widerhall
findet, ist es gewöhnlich notwendig, dass die Tendenzen des jeweiligen Volkes
dieser Lehre ähnlich sind. Und nicht selten werden die Gedanken der Gelehrten
mehr von den Neigungen der Umwelt beeinflusst, in der sie leben, als man denkt.
Einige grundlegende Definitionen:
Ordnung, Revolution, Gegenrevolution
Ordnung, Revolution, Gegenrevolution
Vom Gesagten
ausgehend, fällt es leicht einige Begriffe zu definieren:
1. Ordnung ist
nicht einfach die methodische und praktische Verteilung der materiellen Dinge,
sondern nach dem thomistischen Verständnis die rechte Verfügung der Dinge nach
ihrem naheliegenden und entfernten, physischen und metaphysischen, natürlichen
und übernatürlichen Zweck;
2. Revolution
ist nicht im Wesentlichen ein Straßenaufstand, eine Schießerei oder ein
Bürgerkrieg, sondern alle Anstrengung, die die Menschen gegen die Ordnung
aufwiegeln will;
3.
Gegenrevolution ist jede Anstrengung zur Eingrenzung und Beseitigung der
Revolution.
Revolution A – tendenziell und sophistisch;
Revolution B – in den Gesetzen, Strukturen, Institutionen
und Sitten
Man kann also
sehen, dass sowohl die Ordnung als auch die Revolution und die Gegenrevolution
a) in den Tendenzen, b) in den Ideen, und c) in den Gesetzen, in den
Strukturen, in den Institutionen und den Sitten vorhanden sein können.
So nenne ich die
Revolution tendenziell, wenn sie in den Tendenzen zum Ausdruck kommt. Und ich nenne
sie sophistisch, wenn sie sich im Hauch der Tendenzen auf dem Gebiet der Lehren
ausbreitet.
Diese beiden
Arten von Revolution bilden ein eminent geistiges Phänomen, was besagt, dass
sich ihr Aktionsfeld auf die menschliche Seele und die Mentalität der
Gesellschaft erstreckt. Sie bilden demnach ein Ganzes, das ich die Revolution A
nenne.
Wenn die
Revolution aus dem Innern der Seelen hervorbricht und zur Tat schreitet, wenn
sie geschichtliche Umwälzungen verursacht sowie Gesetze, Strukturen, Einrichtungen
usw. in Unordnung bringt, dann wird sie zu dem, was ich die Revolution B nenne.
Die hier in
aller Kürze dargestellten Begriffe müssen natürlich mit einer Reihe von
Vorbehalten und Ausnahmen versehen werden, die ich zwar in „Revolution und Gegenrevolution“
vorbringe, hier aber nicht weiter erklärt werden können.
Ich beschränke
mich, darauf hinzuweisen, dass ich mit diesem Umriss des Wesentlichen in der
Geschichte keineswegs behaupten möchte, dass sie darauf zu reduzieren sei. Die
elementarste Beobachtung macht deutlich, dass der Lauf der Geschichte von
zahllosen Faktoren bedingt wird, zu denen etwa die ethnischen, die
geographischen und wirtschaftlichen zählen.
Wer die Gleichheit vertritt, wird wohl oder übel Einwände
gegen den Glauben haben
Es bleibt mir
noch ein Wort zum Zusammenhang zwischen der absoluten, metaphysischen
Gleichheit und dem Glauben zu sagen. Wer radikal gleichheitlich denkt, wird
notgedrungen zahllose Einwände gegen die katholische Glaubenslehre vorzubringen
haben.
Die Begriffe eines
persönlichen, vollkommenen und ewigen Gottes, der unendlich weit über den
unvollkommenen und kontingenten (die der Hilfe bedürfen) Kreaturen steht; einer
übernatürlichen Ordnung, die über das Natürliche hinausgeht; des gottgegebenen
Gesetzes, dem zu gehorchen ist; der Offenbarung, die dem menschlichen Geist
Wahrheiten zugänglich macht, die über seinem natürlichen Verständnisvermögen
liegen; des unfehlbaren Lehramtes der Kirche; des monarchischen und
aristokratischen Charakters ihres Aufbaus; alles, einschließlich des Gedankens
von einem Gericht, das die Guten belohnt und die Bösen bestraft, stört den
Gleichheitsgesinnten und veranlasst ihn zu einer ablehnenden Haltung.
Der Katholik im
Gegenteil lernt beim hl. Thomas von Aquin (Summa Theologica, I, q. 47, a 2),
dass die Ungleichheit eine notwendige Voraussetzung für die Vollkommenheit der
geschaffenen Ordnung ist. Daher sind Ungleichheit der Macht, des Wissens, der
Klassenzugehörigkeit und des Vermögens im wesentlichen legitim und zur Erhaltung
der rechten Ordnung unerlässlich, vorausgesetzt, dass sie nicht so weit gehen,
dem Einzelnen seine Würde, seinen Lebensunterhalt und seine Sicherheit zu
nehmen, auf die er als Mensch, durch seine Arbeit usw. einen Anspruch hat.
Fortsetzung folgt
Fortsetzung folgt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen