Die Erste Revolution:
Humanismus, Renaissance,
Protestantismus
Auf diese Weise wird der tiefere Sinn der sophistischen Revolution A und der (faktischen) Revolution B, wie sie sich in Europa im 16. Jahrhundert ereignet haben, als eine Folge der oben beschriebenen, vorausgegangenen tendenziellen Revolution A verständlich.
Der Niedergang
des Mittelalters war von einem Ausbruch des Hochmuts und der Sinnlichkeit
geprägt. Dieser Ausbruch brachte egalitäre und liberale Tendenzen hervor, die
in den darauf folgenden Jahrhunderten immer mehr zunahmen.
Im Humanismus
und in der Renaissance offenbart sich Feindseligkeit sowohl gegenüber dem
Übernatürlichen und dem kirchlichen Lehramt als auch gegenüber der
Sittenstrenge. Im Protestantismus finden sich das „liberum examen“, der
Minimalismus gegenüber dem Übernatürlichen, die Begünstigung der Ehescheidung,
die Abschaffung des Ordensstandes, der Sittenstrenge und der Unterwerfung unter
die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams, sowie die virtuelle
Beseitigung der kirchlichen Hierarchie. Zwar gibt es in fast allen
protestantischen Sekten einen geistlichen Stand, doch ist in diesen der in der
katholischen Kirche bestehende deutliche und tiefgehende Unterschied zwischen
Geistlichem und Weltlichem infolge eines anderen Priesteramtsverständnisses
sehr abgeschwächt. Außerdem wurde in den protestantischen Sekten auch der in der
Kirche errichtete hierarchische Aufbau des geistlichen Standes durch die
Ablehnung des monarchischen Elements im Papsttum entscheidend verstümmelt. Wenn
die gleichmacherischen Tendenzen auch im Anglikanismus nicht so weit gegangen
sind, die Bischofswürde abzuschaffen, so gibt es bei den Presbyterianern doch
schon keine bischöflichen Würdenträger mehr, sondern nur noch Presbyter. In
anderen Sekten ist der egalitäre Trieb so weit gegangen, dass man sogar das
Priesteramt abgeschafft hat.
Wenn ich hier die
Bedeutung der liberalen und egalitären Einstellung des Humanismus, der
Renaissance und der Reformation hervorhebe, so will ich damit keineswegs
leugnen, dass es daneben noch weitere Ursachen gegeben hat, die zur Entstehung
und Verbreitung dieser Bewegungen beigetragen haben. Ich sage damit nur, dass
die tendenzielle Revolution A mit ihrem radikal anarchischen und egalitären
Charakter eine entscheidende Rolle in den Anfängen, in den Lehren, in dem, was
man heute den Werbeerfolg nennen würde, und in den Ergebnissen dieser
Strömungen gespielt hat.
Ich will auch
nicht behaupten, dass diese Hauptantriebskraft nur in den Völkern zur Wirkung
kam, die sich von der Kirche getrennt haben. Der Geist der Renaissance und des
Humanismus hat nachhaltig auch in den Völkern geweht, die sich weiterhin
katholisch nennen. Und obwohl die tendenzielle Revolution A dort nicht zum
offenen Bruch mit der Kirche geführt hat, hat sie doch gewisse
Inkubationsformen des Protestantismus wachgerufen, von denen die wichtigste
wohl der Jansenismus war. Dieser hat das religiöse Leben zusehends erkalten
lassen und schließlich zum Skeptizismus geführt. Eine aufmerksame Untersuchung
des königlichen Absolutismus, der in keinem Lande radikalere Formen angenommen
hat als im katholischen Frankreich, zeigt, dass die Politik der
absolutistischen Herrscher in allem, was nicht ihre eigene Autorität anging,
von einem gewissen egalitären Zug geprägt war. Die von den absoluten Königen
schrittweise eingeführte Einschränkung der Privilegien des Klerus und des Adels
bewegte sich auf die politische Gleichstellung aller, der Macht des
Alleinherrschers unterworfenen Bürger zu. Die ständige Unterstützung, die die
Könige dem aktiveren, entwickelteren Teil des gemeinen Volkes, d.h. dem
Bürgertum zukommen ließen, hat diese politische Gleichstellung nur noch mehr
gefördert.
Die Zweite Revolution:
Aufklärung, Absolutismus, Französische
Revolution
Die seit dem
Ende des Mittelalters zunehmende Sittenverderbnis erreichte im 18. Jahrhundert
derartige Ausmaße, dass sie sogar einige ihrer Anführer zu alarmieren begann.
Die französische Gesellschaft, angetrieben von den gleichen Faktoren, die in
den nordischen Ländern zur Reformation geführt hatten, befand sich mit Hilfe
der Aufklärung und des Absolutismus auf dem besten Weg zu einer heftigen
Konvulsion, die sich als nichts anderes erweisen sollte als die Übertragung auf
die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ebene all dessen, was das
Wesen des Protestantismus ausgemacht hatte.
Im ausgehenden
18. Jahrhundert, als dieser schon müde und alt geworden und innerlich von den
wachsenden Zweifeln der Skepsis ausgehöhlt war, so dass er keine
Expansionskraft mehr besaß und nur noch mit Hilfe des Staates einen Rest an
Leben fristete, erreichten die liberalen und egalitären Tendenzen in Frankreich
schließlich ihren Höhepunkt. Der Humanismus und die Renaissance waren zu dieser
Zeit bereits längst tot. Und der ganze Protestantismus war, wie gesagt, äußerst
abgenutzt. Das Dynamischste und Grundlegendste der drei Bewegungen aber – der
Geist, der sie hervorgerufen hatte – hatte sie überlebt und zeigte sich nun
stärker denn je. Und dieser Geist sollte Frankreich und später ganz Europa in
eine liberale, egalitäre Katastrophe stürzen.
Die Französische
Revolution war derart vom Geist der Reformation geprägt, dass die von ihr
geschaffene Konstitutionelle Kirche nichts als ein kaum vertuschtes Werkzeug
zur Einführung eines wirklichen Protestantismus in Frankreich war. Der
egalitäre, antimonarchische und antiaristokratische Charakter der Französischen
Revolution ist nichts anderes als die auf den zivilen Bereich übertragene gleichmacherische
Tendenz, die den Protestantismus dazu veranlasst hat, die aristokratischen und
monarchischen Elemente der kirchlichen Hierarchie abzulehnen. Der an der
extremen Linken der Revolution wirkende kommunistische Gärstoff, der in
Bewegungen wie der von Babeuf zum Ausdruck kam, war nichts als das laizistische
Gegenstück jener kommunistischen Bewegungen wie dem der Brüder Moravos, die aus
dem Boden hervorgingen, den man als die extreme protestantische Linke
bezeichnen könnte. Die völlige Laizisierung des Staates, die
griechisch-römische Tarnung, die fortgesetzte Beschwörung des klassischen
Heidentums waren ein Beweis für die Auswirkungen des Humanismus, der
Renaissance und der Aufklärung in der Französischen Revolution.
Wir müssen
darauf bestehen, dass der Protestantismus, der Humanismus und die Renaissance nichts
anderes waren als historisch bedingte Ausdrucksformen eines anarchischen,
egalitären Geistes. Dass sie selbst nicht überlebt haben, verdanken sie zum
Teil dem gleichen Geist, aus dem sie hervorgegangen sind, denn dieser, als
Zerstörer schlechthin, hat sie in ihrem eigenen Kern vernichtet. Die Französische
Revolution war lediglich eine neue, wenngleich energischere Ausdrucksform
desselben Geistes.
Die napoleonischen Truppen
haben die Französische Revolution in ihren Rucksäcken
haben die Französische Revolution in ihren Rucksäcken
nach ganz Europa getragen
Durchaus
bekannte geschichtliche Umstände haben dazu geführt, dass die mit der
Errichtung des Kaiserreiches scheinbar abgeschlossene Französische Revolution
von den Truppen Napoleons über ganz Europa verbreitet wurde. Die Kriege und
Revolutionen, die den Zeitabschnitt zwischen 1814 und 1918, das heißt vom Sturz
Napoleons bis zum Sturz der Habsburger, der Romanow und der Hohenzollern,
geprägt haben, bilden eine Abfolge von Konvulsionen, in deren Verlauf sich
Europa im Geiste der Französischen Revolution verwandelt hat. Die Folgen des 2.
Weltkriegs haben diese Verwandlung nur noch verstärkt. Von den alten Monarchien
Europas sind nicht mehr als ein halbes Dutzend übrig geblieben, und die zeigen
sich dem republikanischen Geist gegenüber derart fügsam, dass man sich des
Eindrucks nicht erwehren kann, sie hätten sich andauernd zu entschuldigen, dass
es sie überhaupt noch gibt ...
Mit diesen
Bemerkungen möchte ich keineswegs leugnen, dass es in den zerstörten Strukturen
tatsächlich auch Missbräuche gegeben hat, die einer Korrektur bedurften. Ich
will auch nicht behaupten, die Einführung einer aus allgemeinen Wahlen
hervorgegangenen Regierung könne nur das Ergebnis des egalitären, liberalen
Geistes sein, von dem ich hier spreche. Das entspräche weder lehrmäßig der
Wahrheit noch wäre es angesichts der Geschichte zu rechtfertigen. Neben
verschiedenen politischen Strukturen aristokratischen Charakters, die, wie etwa
in Venedig, keinesfalls alle monarchisch ausgerichtet waren, gab es auch andere
Strukturen, die weder monarchisch noch aristokratisch aufgebaut waren, wie etwa
Schweizer Kantone und freie deutsche Reichsstädte. Alle diese Regierungsformen
bestanden friedlich nebeneinander, denn die Vielfalt der Regierungssysteme
wurde je nach Zeit, Ort und sonstigen Umständen als legitim angesehen.
Die Revolution
aber, die am Ende des Mittelalters ausbrach, wurde von einem ganz anderen Geist
getragen als dem, der zur Bildung der aristokratischen beziehungsweise
bürgerlichen Staaten des europäischen Mittelalters geführt hatte. Dieser Geist
kam in der Behauptung absoluter, anarchischer Freiheit und der vollkommenen
Gleichheit als den einzigen, für alle Zeiten und Orte gültigen Regeln der
Ordnung und Gerechtigkeit zum Ausdruck.
Dieser Geist hat
dann andererseits wieder die politisch egalitäre bürgerliche Gesellschaft
untergraben, die er selbst hervorgebracht hatte. Den Höhepunkt seiner
verwegenen Behauptungen erreichte er aber schließlich im Zuge der dritten
großen Revolution der westlichen Welt, im Kommunismus.
Die Grundsätze von 1789:
Die Tendenz zur völligen Freiheit und Gleichheit
Niemand wird
leugnen können, dass es zu allen Zeiten Obrigkeiten gab, die die grundlegende
Gleichheit und Freiheit des Menschen verletzt haben. Andererseits hat es im
Laufe der Geschichte auch immer wieder Bewegungen zum Schutz gegen die
Ausschreitungen der Obrigkeit gegeben, denen es darum ging, der letzteren ihre
rechtmäßigen Grenzen aufzuzeigen. Solange sich diese Bewegungen an das genannte
Ziel halten, verdienen sie auch sicherlich allen Beifall. Wie in jeder anderen
Epoche auch konnten Gleichheit und Freiheit im 18. Jahrhundert nutzbringend in
Erinnerung gebracht werden, soweit sie nur richtig verstanden wurden.
Es stimmt
natürlich, dass es 1789 unter den Revolutionären der ersten Stunde auch Leute
gab, die nichts anderes wollten als eine gerechte Mäßigung der Staatsgewalt und
die Gleichheit und Freiheit, wie sie in der Erklärung der Rechte des Menschen
verkündet wurden, in ihrem förderlichsten Sinne verstanden.
Der Text der
berühmten Erklärung war jedoch zu allgemein gehalten: Er vertrat eine
Gleichheit und Freiheit ohne jede Einschränkung, was wiederum zu einer
umfassenden, unangebrachten Auslegung führen musste, zu einer absoluten
Gleichheit und Freiheit nämlich, die alles einbezog.
Diese Auslegung
entsprach selbstverständlich dem Geist der heraufziehenden Revolution, die sich
nach und nach von all den Parteigängern frei machte, die nicht mit diesem Geist
übereinstimmten. Die Jagd auf den Adel und den Klerus wurde von der Verfolgung
des Bürgertums abgelöst. Allein die Handwerker sollten übrig bleiben.
Als der Terror
schließlich vorbei war, vertrat der Bürgerstand, dem es um die Ausmerzung der
alten privilegierten Klassen ging, weiterhin die unvergänglichen Prinzipien von
1789. Doch tat er dies auf eine zwiespältige, unkluge Art und Weise, denn er
rief die zu einer völligen Gleichheit und Freiheit tendierenden Volksmassen auf
den Plan, um sich ihrer Unterstützung im Kampf gegen Königtum, Adel und Klerus
zu vergewissern.
Diese Unklugheit
ermöglichte in großem Ausmaß den Ausbruch jener Bewegung, die schließlich die Macht
des Bürgertums selbst in Frage stellen sollte.
Wenn alle
Menschen frei und gleich sind, haben dann die Reichen eine Daseinsberechtigung?
Mit welchem Recht erben die Kinder das Vermögen ihrer Eltern ohne zu arbeiten?
Der utopische Kommunismus verkündete,
dass die
bürgerliche politische Gleichheit
ohne die soziale und wirtschaftliche
Gleichheit
eine Täuschung sei
Bevor noch die
Industrialisierung zu den großen Zusammenballungen unterernährter Proletarier
führte, prangerte der utopische Kommunismus bereits die vom Bürgertum
eingeführte rein politische Gleichheit als eine Täuschung an und verlangte nun
die absolute soziale und wirtschaftliche Gleichheit. Der von einer Gesellschaft
ohne Obrigkeit träumende Anarchismus breitete sich aus. Diese anfangs nur von
einer beschränkten Anhängerzahl vertretenen radikalen Grundsätze des utopischen
Kommunismus sollten später eine ungeahnte Verbreitung in den westlichen Ländern
erleben. Allmählich drangen sie auch in das Denken zahlreicher Monarchen ein
und beeinflussten die Mächtigen sowie weltliche und kirchliche
Persönlichkeiten. So machte sich in weiten Bereichen von Nutznießern der
bestehenden Ordnung eine gewisse Sympathie gegenüber dem Edelmut der
freiheitlichen und egalitären Ideale breit, und mancher bekam plötzlich ein
schlechtes Gewissen, wenn er an die Rechtmäßigkeit der Machtausübung durch jene
dachte, denen sie anvertraut war.
Meiner Ansicht nach besteht die Größe von Karl Marx nicht
darin, dass er den wissenschaftlichen Kommunismus, eine verworrene, nur Wenigen
bekannte Lehre geschaffen hat, denn der Marxismus ist an der kommunistischen
Basis und in der heutigen Öffentlichkeit genauso unbekannt wie die
Gedankengänge Plotins oder Averroes‘. Marx hat es aber vermocht, weltweit die
kommunistische Offensive auszulösen, indem er die Anhänger einer radikal
egalitären und anarchischen Tendenz auf der Grundlage des utopischen
Kommunismus verbündet hat.
Wenn also auch
die Führer des Marxismus mehr oder weniger vom Marxistischen Geiste beeinflusst
sind, so sind doch die von ihnen befehligten einfachen Soldaten im Allgemeinen
nicht in der Lage, diese Lehre zu verstehen. Was sie dazu veranlasst, sich um
ihre Führer zu scharen, sind nichts als vage, im utopischen Sozialismus
inspirierte Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Und wenn die marxistischen
Kader in gewissen Bereichen der öffentlichen Meinung auf Sympathie stoßen, so
verdanken sie dies im Grunde der fast universalen Ausstrahlung der egalitären
Prinzipien der Französischen Revolution und der dem utopischen Sozialismus
eigenen romantischen Sentimentalität.
Fortsetzung folgt
Fortsetzung folgt
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