Professor
Plinio Corrêa de Oliveira
Als ich noch sehr jung war,
betrachtete ich hingerissen die Ruinen der Christenheit.
An sie hängte ich mein Herz.
Dem Künftigen kehrte ich den Rücken zu
und machte aus jener segensreichen Vergangenheit
meine Zukunft.
Mariä Himmelfahrt
-1981-
Auf Bitten von P. Stanislas Ladusans SJ, der 1976 ein
Lexikon des brasilianischen philosophischen Denkens vorbereitete, schrieb
Professor Plinio Corrêa de Oliveira damals die erste Fassung seines
philosophischen Selbstbildnisses. 1989 bat ihn P. Stanislas dann noch einmal,
den Text zu aktualisieren. Als Prof. Oliveira schließlich gegen Ende 1994 dazu
kam, dem Text die endgültige Fassung zu geben, war P. Stanislas gerade
gestorben, und so blieb die Schrift unveröffentlicht.
Inzwischen sind acht Jahre vergangen, seit unser
unvergesslicher Gründer am 3. Oktober 1995 das Zeitliche gesegnet hat. Aus
Anlaß des 100jährigen Geburtstages von Prof. Plinio Corrêa de Oliveira nehmen
wir die Gelegenheit wahr, diese bisher unveröffentlichte Schrift der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen, die die tiefe Spiritualität dieses wahren Kreuzritters des 20.
Jahrhunderts und seine Hingabe an die Kirche offenbart.
Philosophisches Selbstbildnis
„Das Lächeln der Skeptiker hat nie vermocht,
den siegreichen Vormarsch der Gläubigen aufzuhalten“
Ich bin
überzeugter Thomist.(1) Der Bereich der Philosophie, der mich am meisten
interessiert, ist die Philosophie der Geschichte. In ihr finden sich die beiden
Beschäftigungen zusammen, denen ich mich mein ganzes Leben lang gewidmet habe:
Studium und Aktion.
Letztere habe ich auf dem eng umschriebenen
Feld der Lehre und ihrer Verbreitung sowohl im Dialog als auch durch die
Polemik ausgeübt. Mögen Begriff und Wort auch noch so anachronistisch anmuten,
so tue ich diese Äußerung doch mit größter Genugtuung.
Ein Essay, der das Wesentliche meines
Denkens zusammenfasst, erklärt auch den Sinn meines ideologischen Wirkens: Es
handelt sich um das Buch „Revolution und Gegenrevolution“.
(1) Anm. der Redaktion:
Es ist verständlich, dass der bekannte katholische Denker sein philosophisches
Selbstbildnis mit der Erklärung einleitet, er sei ein überzeugter Anhänger des
hl. Thomas von Aquin.
Den Spuren seiner
Vorgänger folgend in der Anerkennung des Aquinaten, erhob der heilige Papst
Pius V. den hl. Thomas in den Rang eines Kirchenlehrers und erklärte seine
Lehre als „wahrste Regel unseres Glaubens“.
Im Konzil von
Trient verdiente die Summa theologica des Doctor Communis „die einzigartigste Ehre
auf dem Altar neben der Bibel gelegt zu werden“.
Leo der XIII.
benannte ihn den „Fürsten der Philosophen“ und der hl. Pius X. erklärte, die thomistische
Lehre „ist vollkommen, unversehrt, unerschöpfliche Quelle für jede Art von
Wissenschaft“.
Große
geschichtliche Veränderungen haben ihren Ursprung in der Haltung des
menschlichen Geistes gegenüber der Religion und der Philosophie
Eine Voraussetzung dieses Essay geht davon aus,
dass im Gegensatz zu dem, was so viele Philosophen und Sozialwissenschaftler
behaupten, der Lauf der Historie nicht vorwiegend oder gar ausschließlich von
den Zwängen der Materie auf den Menschen bestimmt wird. Ohne Zweifel
beeinflussen sie das Tun des Menschen. Doch ihm ist es gegeben, ausgestattet
mit einer vernünftigen und freien Seele, den Lauf und die Richtung der
Geschichte zu bestimmen. Er wirkt, anders gesagt, mehr oder weniger
einschneidend auf die Umstände, die er vorfindet, ein und wird von diesen auch
selbst auf unterschiedliche Weise beeinflusst, und bestimmt so den Lauf der
Ereignisse.
Nun entfaltet sich das menschliche Handeln
normalerweise in Abhängigkeit von den Auffassungen, die ein jeder von der Welt
(Universum), von sich selbst und vom Leben hat. Das bedeutet, dass die
Geschichte von religiösen und philosophischen Lehren beherrscht wird, und dass
der dynamische Kern jener Faktoren, die die großen historischen Umwälzungen
herbeiführen, sich in der Abfolge der vom menschlichen Geist eingenommenen
Haltungen gegenüber Religion und Philosophie befindet.
Die christliche
Zivilisation steht in völliger Übereinstimmung mit den ewigen Grundprinzipien
des Naturrechts und des göttlichen Rechts
Ich gehe nun zu einer weiteren Voraussetzung
von Revolution und Gegenrevolution über. Eine katholische Geschichtsauffassung
hat zu berücksichtigen, dass das Alte und das Neue Gesetz nicht nur die
Vorschriften enthalten, nach denen der Mensch in der Nachfolge Christi seine
Seele zu formen und sich so auf die Anschauung Gottes vorzubereiten hat,
sondern auch die Grundregeln des menschlichen Verhaltens in Übereinstimmung mit
der natürlichen Ordnung der Dinge.
In dem Maße also, in dem der Mensch im
Gnadenleben fortschreitet, schafft er auch durch die Ausübung der Tugend eine
Kultur, eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung, in
völliger Übereinstimmung mit den grundlegenden, unvergänglichen Prinzipien des
Naturgesetzes und des göttlichen Gesetzes. Diese Kultur und Ordnung wird als christliche
Zivilisation bezeichnet.
Die rechte Anordnung der irdischen Dinge
beschränkt sich natürlich nicht auf diese grundlegenden, unvergänglichen
Prinzipien, denen auch viel Zufälliges, Vorübergehendes und Freies anhaftet.
Die christliche Zivilisation schließt eine unermessliche Vielfalt von Aspekten
und Nuancen ein. Das geht so weit, dass man in einem gewissen Sinne sogar von
christlichen Zivilisationen und nicht nur von einer christlichen Zivilisation
sprechen kann. Da jedoch die Grundprinzipien in allen christlichen
Zivilisationen die gleichen sind, bildet die große Wirklichkeit, die sie alle
einbezieht, eine machtvolle Einheit, die den Namen christliche Zivilisation
schlechthin verdient. Die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der
Einheit sind perfektionierende Elemente. Somit geht die christliche
Zivilisation infolge der Vielfalt ihrer Verwirklichungen keineswegs ihrer
Einheit verlustig, und man kann durchaus behaupten, dass es im tieferen Sinn
des Wortes nur eine einzige christliche Zivilisation gibt. Dennoch ist sie in
ihrer Einheit so wunderbar vielfältig, dass man sich die Freiheit nehmen darf,
unter einem bestimmten Gesichtspunkt vom Vorhandensein verschiedener
christlicher Zivilisationen zu sprechen.
Nach dieser Klarstellung, die in analoger
Weise auch für den Begriff der katholischen Kultur gilt, möchte ich
klarstellen, dass ich die Begriffe christliche Zivilisation und christliche
Kultur in ihrem höheren Sinn, das heißt, in dem ihrer Einheit benutzen werde.
Ich erlaube mir hier, die oben genannten
Behauptungen nicht mit einschlägigen Zitaten aus Texten des Heiligen Thomas
oder des kirchlichen Lehramtes zu belegen, denn diese sind so zahlreich und
außerdem all denen, die sich dieser Thematik ernsthaft widmen, durchaus
bekannt, so dass ich mir diese lästige und zudem überflüssige Mühe sparen kann.
Diese Bemerkung gilt auch für andere Betrachtungen, die noch im ersten Teil der
vorliegenden Darstellung auftauchen werden.
Unter den oben angeführten Voraussetzungen
ist es nun leicht, die Rolle der Kirche und der christlichen Zivilisation in
der Geschichte zu definieren.
Die Völker können
den Status einer vollkommenen Zivilisation nur erreichen, wenn sie der Gnade
und dem Glauben entsprechen
Es ist richtig, dass wenngleich der Mensch
mit Gewissheit und ohne Irrtum in den göttlichen Dingen das erkennen kann, was
dem menschlichen Verstand an sich nicht unzugänglich ist, (2) so ist es ihm
jedoch infolge der Erbsünde nicht möglich das Gesetz Gottes dauerhaft
einzuhalten. Dies ist ihm nur möglich durch die Gnade. Um den Menschen darüber
hinaus gegen seine eigene Bosheit und Schwäche zu schützen, versah Jesus
Christus seine Kirche mit einem unfehlbaren Lehramt, damit es nicht nur die
Wahrheiten des Glaubens, sondern auch die zur Erlösung notwendigen moralischen
Wahrheiten irrtumsfrei lehre.
(2) Vgl.
Denzinger-Schoenmetzer, 33. Aufl., Nr. 3005.
Es ist der Glaube, der den Menschen
veranlasst, sich dem Lehramt anzuvertrauen. Ohne den Glauben wäre der Mensch
nie in der Lage, die Gebote Gottes dauerhaft und in vollem Umfange zu halten.
Daraus ergibt sich, dass die Völker die
vollkommene, das heißt die christliche Zivilisation nur in dem Maße erreichen
können, in dem sie dem Anspruch der Gnade und des Glaubens entsprechen; das
schließt aber auch die rückhaltslose Anerkennung der katholischen als der
einzig wahren Kirche und der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes mit ein.
Die tiefgründigste und zentralste
Schlüsselfrage der Geschichte besteht demnach darin, dass die Menschen den
katholischen Glauben kennen lernen, bekennen und praktizieren.
Natürlich will ich damit nicht leugnen, dass
es auch hervorragende nichtchristliche Zivilisationen gegeben hat. Sie alle
aber wurden durch diese oder jene Züge entstellt, die auf schockierende Weise
mit dem von ihnen auf anderen Gebieten erreichten hohen Niveau in Widerspruch
standen. Man braucht ja nur an die weite Verbreitung der Sklaverei zu erinnern
oder an die Erniedrigung, der die Frau vor Jesus Christus ausgesetzt war. Keine
andere Zivilisation hat je die der christlichen Zivilisation eigene, alles
überragende Vollkommenheit erreicht.
Ich will auch keineswegs die Tatsache
leugnen, dass die Zivilisation auch in einer vorwiegend schismatischen bzw.
häretischen Bevölkerung wichtige Züge christlicher Tradition bewahren kann. Die
ganze Fülle der christlichen Tradition kann sich jedoch allein aus der
katholischen Kirche entfalten und nur in katholischen Völkern vollständig
erhalten bleiben.
„Es gab eine
Zeit, wo die Weisheitslehre des Evangeliums die Staaten leitete...“
Nun wird man jedoch fragen, wann es diese
vollkommene christliche Zivilisation in der Geschichte tatsächlich gegeben
habe. Ist die Vollkommenheit in diesem Leben überhaupt erreichbar?
Die Antwort auf diese Frage wird manchen
Leser schockieren und ärgern. Ich muss aber dennoch behaupten, dass es eine
Zeit gegeben hat, in der ein Großteil der Menschheit dieses
Vollkommenheitsideal kannte und eifrig und aufrichtig danach strebte. Dank
dieses Strebens in den Seelen nahmen die Grundzüge der Zivilisation derart
christliche Formen an, wie es die Umstände einer sich aus der Barbarei
erhebenden Welt zuließen. Ich spreche vom Mittelalter, von dem Papst Leo XIII.
trotz einer oder anderer Mängel folgende beredte Worte schrieb: „Es gab eine
Zeit, wo die Weisheitslehre des Evangeliums die Staaten leitete. Gesetze,
Einrichtungen, Volkssitten, alle Ordnungen und Beziehungen des Staatslebens
waren in dieser Zeit von christlicher Klugheit und göttlicher Kraft
durchdrungen. Da war der Religion Jesu Christi in der Öffentlichkeit jene
Auszeichnung gesichert, wie sie ihr gebührt; da blühte sie überall unter dem
wohlwollenden Schutz der rechtmäßigen Obrigkeiten und Regenten, da waren Kirche
und Reich in glücklicher Eintracht und durch gegenseitige Freundesdienste
miteinander verbunden. Diese Staatsordnung trug über alles Erwarten reiche
Früchte, die noch nicht vergessen sind. Hierfür gibt es unzählige Zeugnisse aus
der Geschichte, welche durch keine Arglist der Feinde verfälscht oder
verdunkelt werden können.“(3)
(3) Enzyklika
Immortale Dei vom 1. November 1885.
Diese Sichtweise
über das Ausmaß des kirchlichen Einflusses im Mittelalter finden wir auch in
dem folgenden Text Papst Pauls VI. über die Rolle des Papsttums im
mittelalterlichen Italien: „Wir vergessen keineswegs die Jahrhunderte, in denen
das Papsttum die Geschichte [Italiens]
mitgestaltete, seine Grenzen verteidigte, sein kulturelles und geistiges Erbe
bewahrte, ganze Generationen in Zivilisation, Sitte, moralischer und sozialer
Tugend erzog und sein römisches Bewusstsein und seine besten Söhne mit dem
eigenen universalen Auftrag [des Papsttums] verband.“(4)
(4) Ansprache an
den Präsidenten der Italienischen Republik, 11. Januar 1964.
Insegnamenti di Paolo VI, Tipografia Poliglotta Vaticana, Bd. II, S. 69.
So ist die
christliche Zivilisation also keine Utopie. Sie ist etwas Realisierbares, und das
in einer bestimmten Epoche effektiv blühte. Etwas, schließlich, das gewissermaßen
das Mittelalter überlebte, so dass Papst Pius X. schreiben konnte: „Nein, es
ist nicht mehr nötig, eine Zivilisation zu ersinnen, noch auch einen neuen
Staat in den Wolken zu bauen. Es hat sie gegeben und es gibt sie: es sind die
christliche Zivilisation und der katholische Staat. Es kann sich nur noch darum
handeln, ihn unablässig gegen die immer wieder neu ausbrechenden Angriffe einer
falschen Utopie, der Revolution und der Gottlosigkeit auf seine natürlichen und
göttlichen Grundlagen zu stellen und ihn darin zu stärken und zu festigen.“(5)
Die christliche Zivilisation hat also nachhaltige, bis in unsere Tage lebendige
Spuren hinterlassen.
(5) Apostolisches
Schreiben „Notre Charge Apostolique“ vom 25. August 1910, in Doctrina
Pontificia, Bd. II, S. 408.
B.A.C., Madrid, 1958..
Fortsetzung folgt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen