Dienstag, 22. September 2015

Philosophisches Selbstbildnis V - Die 4. Revolution

Damit wäre die Lage der III. Revolution kurz vor dem 20. Jahrestag der Veröffentlichung von „Revolution und Gegenrevolution“ umschrieben. Doch dieses Panorama wäre ohne den Hinweis auf eine Umwandlung, die sich im Innern der III. Revolution abgespielt hat, unvollständig geblieben: Aus ihr geht die IV. Revolution hervor.
   Es ist bekannt, dass weder Marx noch seine wichtigsten Anhänger in der Diktatur des Proletariats die letzte Etappe des Revolutionsprozesses gesehen haben. Gleich der vermeintlichen Evolution, die sich im Ablauf der Zeiten bis ins Unbegrenzte entwickeln wird, soll nach der mit dem Denken Marx´ und seiner Jünger eng verbundenen evolutionistischen Mythologie auch die Revolution nie ein Ende nehmen. So wie aus der I. Revolution bereits zwei weitere hervorgegangen sind, wird auch die dritte eine weitere gebären. Und so wird es weitergehen...
   Vom marxistischen Standpunkt aus ist es im Moment durchaus schon vorhersehbar, wie die IV. Revolution aussehen wird. Die marxistischen Theoretiker selbst erwarten den Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats infolge einer weiteren Krise, die ihre Entstehung der Tatsache verdankt, dass der hypertrophische Staat zum Opfer seiner eigenen Hypertrophie wird. Mit dem Verschwinden des Staates wird der Platz frei für einen wissenschaftshörigen, kooperativistischen Zustand, in dem der Mensch, nach Meinung der Kommunisten, ein Maß an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erreicht haben wird, das bis dahin unvorstellbar war.


   Wie soll das aussehen? Man muss sich wohl oder übel fragen, ob nicht die von den strukturalistischen Strömungen erträumte Stammesgesellschaft die wahre Antwort auf diese Frage ist, sieht doch der Strukturalismus im Stammesleben eine illusorische Synthese aus größter individueller Freiheit und gebilligtem Kollektivismus, wobei letzterer schließlich die Freiheit verschlingen wird. In diesem Kollektivismus sollen die verschiedenen „Ich“ oder die Einzelpersonen, mit ihrem charakteristischen und zwiespältigen Denken, Wollen und Seinsweisen in die Kollektivpersönlichkeit des Stammes eingehen und sich darin auflösen, so dass daraus eine verdichtete, gemeinsame Art des Denkens, Wollens und des Lebensstils entsteht.
   Der dritte Teil von „Revolution und Gegenrevolution“ endet mit Betrachtungen über diese im Entstehen begriffene IV. Revolution.

Die Verwandlung des Kommunismus
hin zu einer sich selbst verwaltenden Gesellschaft

   Mit dem Ende des folgenden Jahrzehnts, d. h. der achtziger Jahre, wurden die im dritten Teil von „Revolution und Gegenrevolution“ getroffenen Voraussagen durch die Fakten bestätigt.
   Da Sowjetrussland das ungeheure wirtschaftliche Fiasko sowie die unmenschliche Einschränkung legitimer Freiheiten nicht mehr länger verbergen konnte, entschied es sich ungeniert dafür, diese Tatsachen vor der ganzen Welt zuzugeben. Und so brach schließlich das Sowjetregime nach den spektakulären, durch Gorbatschow mit seinen Liberalisierungsprogrammen Glasnost (1985) und Perestroika ausgelösten geopolitischen Konvulsionen in sich zusammen (1989 – 1991) und scheint sich seither auf ein dem westlichen Vorbild näher stehendes Modell hin zu bewegen.
   Dieser Umschwung stellt die Kommunisten vor ein neues strategisches Problem, denn, wie es scheint, enthält er gleichzeitig einen Appell: So wie sich die granitene Struktur des Kommunismus aufgelöst hat, soll sich nun auch der Westen bei der Anwendung der Grundprinzipien von Privateigentum und freier Initiative weniger rigide zeigen und sich seinerseits zu einer entschiedenen Annäherung an den Sozialismus bereit finden. Auf diese Weise würden der Westen und der Osten auf eine gemeinsame Zwischenlösung zusteuern, die allerdings nicht unbedingt in der Mitte, sondern eventuell eher in der Nähe des Kommunismus als des Kapitalismus liegen sollte; womit dann auch eine endgültige Lösung für den Weltfrieden gefunden wäre.
   Wie viele haben sich im Westen nicht von dieser Aussicht verführen lassen? Wie viele zeigen sich nicht geneigt zu sagen: Es ist besser, einem egalitäreren Regime mit weniger bürgerlicher und wirtschaftlicher Freiheit zuzustimmen, wenn man damit verhindern kann, dass sich die Lage in Russland zurückentwickelt und die Kommunisten wieder an die Macht kommen, denn dann würden wir uns wieder dem schrecklichen Gespenst eines Atomkriegs gegenübersehen, von dem wir uns bereits wie durch ein Wunder befreit sahen.
   Auf diese Überlegung ist zu antworten, dass Kriege eine Strafe für die Sünden der Menschen sind. Ein unnatürliches, gegen das göttliche Gesetz gerichtetes Regime wie den Kommunismus auch in seiner etwas abgeschwächteren Art annehmen bedeutet, eine ungeheure Sünde begehen, die, indem sie zwangsläufig ihre unheilvollen Auswirkungen verbreitet, der Menschheit nur Unglück und Ruin bringen kann.
   Angesichts des Zerfalls des Sowjetreiches fragen sich deshalb die scharfsinnigeren Geister des Westens, inwieweit der ganze Vorgang wirklich als authentisch, dauerhaft und unbestreitbar angesehen werden kann und damit auch begründete Hoffnungen rechtfertigt. Und obwohl es nicht an Optimisten fehlt, die derartige, täuschend vielversprechende Aussichten eiligst mit offenen Armen begrüßen, empfiehlt sich doch eine kluge Haltung der Vorsicht gegenüber der rätselhaften Retraktion des Kommunismus, denn es ist durchaus möglich, dass es sich nur um eine Verwandlung handelt mit dem Ziel, die selbstverwaltete Gesellschaft zu erreichen.
   Gorbatschow selbst hat in seiner propagandistischen Schrift „Perestroika - Neue Ideen für mein Land und für die Welt“ (15)‚ treuherzig darauf hingewiesen: „Bei dieser Reform geht es darum, den Übergang von einem überaus zentralisierten, von den Anordnungen übergeordneter Stellen abhängigen System zu einem auf der Verbindung von demokratischem Zentralismus und Selbstverwaltung beruhenden System (...) zu gewährleisten.“ Gerade diese Selbstverwaltung war aber auch nach Maßgabe der UdSSR-Verfassung in ihrer Präambel das „höchste Ziel des Sowjetstaates“.
   All diese Überlegungen sind, ausführlicher entwickelt, in der 1992 veröffentlichten erweiterten Ausgabe von „Revolution und Gegenrevolution“ zu finden.(16)

(15) Editora Best Seller, São Paulo, 1987, S. 35.
(16) Der dritte Teil von Revolution und Gegenrevolution, dem der Autor einige Kommentare hinzugefügt hat, wurde 1992 in Argentinien, Chile, Ekuador, Kolumbien und Spanien veröffentlicht, 1993 in den USA und in Brasilien, 1994 in Peru und 1995 in Rumänien.
  
Fortsetzung folgt

Keine Kommentare: