Loth und seine Töchter fliehen aus dem vom göttlichen Zorn niedergebrannten Sodom (Mosaik aus dem 12. Jahrhundert, Dom von Monreale, Italien). |
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Beim Thema Toleranz herrscht vielleicht mehr als
bei jedem anderen Thema so viel Verwirrung, dass es notwendig erscheint, die
Tragweite der Begriffe zu klären, bevor man sich mit dem Inhalt der Frage
befasst.
Was
genau ist Toleranz?
Man stelle sich die Situation eines Mannes vor,
der zwei Söhne hat, einen mit festen Grundsätzen und starkem Willen, den
anderen mit unentschlossenen Grundsätzen und schwankendem Willen. In dem Ort,
in dem die Familie wohnt, taucht zufällig ein Lehrer auf, der einen Ferienkurs
gibt, der für beide außerordentlich nützlich sein könnte. Der Vater möchte,
dass seine Kinder an dem Kurs teilnehmen, aber er sieht, dass dies bedeutet,
dass sie auf mehrere Ausflüge verzichten müssen, an denen sie beide sehr
hängen. Nach Abwägung der Vor- und Nachteile kommt er zu dem Schluss, dass es
für seine Kinder besser ist, auf einige legitime Ablenkungen zu verzichten, als
eine seltene Gelegenheit zur intellektuellen Entwicklung zu verpassen. Nachdem
die Betroffenen über den Vorschlag informiert worden waren, nahmen sie eine
unterschiedliche Haltung ein. Der erste unterwirft sich nach kurzem Zögern dem
väterlichen Willen. Der andere beklagt sich, bittet und fleht den Vater an,
seinen Entschluss zu ändern, und zeigt solche Anzeichen von Irritation, dass
eine ernsthafte Bewegung der Revolte seinerseits zu befürchten ist.
Angesichts dessen hält der Vater an seiner
Entscheidung für den guten Sohn fest. Aber, da er merkt, was den mittelmäßigen
Sohn die Anstrengung des Schulalltags kostet, und in wegen der vielen
Reibungspunkte, die sich im täglichen Leben in den Beziehungen zwischen ihnen
ergeben, hält er es für besser, nicht darauf zu bestehen, damit die
unvermeidlichen moralischen Grundsätze gewahrt bleiben. Und er willigte ein,
dass sein Sohn den Kurs nicht besuchen bräuchte.
Als der Vater so mit seinem mittelmäßigen und
lauwarmen Sohn umging, gab er ihm gegen seinen Willen eine Erlaubnis. Eine
Erlaubnis, die in keiner Weise eine Zustimmung bedeutet. Eine Erlaubnis, die
von ihm sozusagen erpresst wurde. Um ein Übel (die Spannungen mit seinem Sohn)
zu vermeiden, willigte er in ein geringeres Gut (die Ferienausflüge) ein und
verzichtete auf ein höheres Gut (den Kurs). Diese Art der Erlaubnis, die ohne
Zustimmung und sogar mit Tadel erteilt wird, nennt man Toleranz.
Freilich bedeutet Toleranz manchmal eine Erlaubnis,
nicht zu einem geringeren Gut, um ein Übel zu vermeiden, sondern zu einem
geringeren Übel, um ein größeres zu vermeiden. Dies wäre der Fall eines Vaters,
der einen Sohn hat, der sich mehrere schwere Laster zugezogen hat, und da er
nicht in der Lage ist, sie alle zu beseitigen, den Plan fasst, sie nacheinander
zu bekämpfen. Während er also versucht, das eine Laster zu verhindern,
verschließt er die Augen vor den anderen. Dieses Schließen der Augen, das eine
mit tiefem Bedauern gegebene Zustimmung ist, zielt darauf ab, ein größeres Übel
zu vermeiden, nämlich dass die moralische Änderung des Sohnes unmöglich wird.
Kennzeichnend für sie ist eine Haltung der Toleranz.
Wie wir sehen, kann Toleranz nur in anormalen
Situationen praktiziert werden. Gäbe es zum Beispiel keine bösen Kinder,
bräuchte es auch keine Toleranz seitens der Eltern geben.
Je mehr die Mitglieder einer Familie also
gezwungen sind, untereinander Toleranz zu üben, desto anormaler wird die
Situation sein.
Man spürt sehr stark die Realität dessen, was hier
gesagt wird, wenn man den Fall eines religiösen Ordens oder einer Armee
betrachtet, in der die Chefs oder Vorgesetzten gewohnheitsmäßig unbegrenzte
Toleranz gegenüber ihren Untergebenen anwenden müssen. Eine solche Armee ist
nicht geeignet, Schlachten zu gewinnen. Ein solcher Orden bewegt sich nicht auf
die steilen und schroffen Höhen der christlichen Vollkommenheit zu.
Mit anderen Worten: Toleranz kann eine Tugend
sein. Aber es ist eine charakteristische Tugend, für anormale, gefährliche und
schwierige Situationen. Es ist sozusagen das tägliche Kreuz des glühenden
Katholiken in Zeiten der Verzweiflung, der geistigen Dekadenz und des
Untergangs der christlichen Zivilisation.
Gerade deshalb ist es verständlich, dass sie in
einem Jahrhundert der Katastrophen wie dem unseren so notwendig ist. In unseren
Tagen ist der Katholik gezwungen, jeden Augenblick etwas zu ertragen: in der
Straßenbahn, im Bus, auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Zuhause, bei Freunden,
die er besucht, in den Hotels, in denen er seinen Sommerurlaub verbringt, überall
begegnet er Unsitten, die in ihm einen inneren Aufschrei der Empörung
hervorrufen. Ein Aufschrei, den er manchmal unterdrücken muss, um größeres Übel
zu vermeiden. Ein Aufschrei, der jedoch unter normalen Umständen eine Ehren-
und Kohärenzpflicht wäre.
Nebenbei bemerkt, ist es interessant, den
Widerspruch zu beobachten, in den die Anbeter dieses Jahrhunderts verfallen.
Einerseits erheben sie ihre guten Eigenschaften mit Nachdruck in den Himmel und
verschweigen oder unterschätzen ihre Mängel und Fehler. Andererseits hören sie
nicht auf, intolerante Katholiken zu apostrophieren und um Toleranz für das
Jahrhundert zu bitten. Und sie werden nicht müde zu bekräftigen, dass diese
Toleranz konstant, unnachgiebig und extrem sein muss. Es ist schwer zu
verstehen, warum sie den Widerspruch, in dem sie sich befinden, nicht erkennen.
Denn Toleranz gibt es nur in der Anomalie, und die Notwendigkeit viel Toleranz
zu verkünden, ist eine Bestätigung vom Vorhandensein vieler Anomalie.
Auf jeden Fall sind sich Griechen und Trojaner
einig, dass Toleranz in unserer Zeit sehr notwendig ist.
Unter diesen Bedingungen wird deutlich, wie sehr
die derzeitige Sprache der Toleranz falsch ist.
In der Tat hat dieses Wort meist eine
schmeichelhafte Bedeutung. Wenn wir sagen, dass jemand tolerant ist, wird diese
Aussage von einer Reihe von impliziten oder expliziten Lobpreisungen begleitet:
große Seele, großes Herz, weitherzig, großzügig, verständnisvoll, von Natur aus
zu Sympathie, Freundlichkeit und Wohlwollen neigend. Und logischerweise ist das
Adjektiv intolerant auch mit einer Reihe von mehr oder weniger deutlichen
Vorwürfen verbunden: Engstirnigkeit, galliges Temperament, Bösartigkeit,
spontaner Hang zu Misstrauen, Hass, Groll und Rache.
In Wirklichkeit ist nichts einseitiger. Denn wenn
es Fälle gibt, in denen Toleranz eine gute Sache ist, so gibt es andere, in
denen sie ein Übel ist. Und es kann sogar zu einem Verbrechen werden. Niemand
verdient also Lob, weil er systematisch tolerant oder intolerant ist, sondern
weil er das eine oder das andere ist, je nachdem, was die Umstände erfordern.
Das Problem verlagert sich also. Es geht nicht
darum, zu wissen, ob jemand nach dem System tolerant oder intolerant sein kann
oder sollte. Es geht vielmehr darum, zu untersuchen, wann man das eine oder das
andere sein muss.
Zunächst einmal muss darauf hingewiesen werden,
dass es eine Situation gibt, in der ein Katholik immer intolerant sein muss.
Und diese Regel lässt keine Ausnahmen zu. Das ist dann der Fall, wenn man
möchte, dass er eine Sünde begeht, um anderen zu gefallen oder um ein größeres
Übel zu vermeiden. Denn jede Sünde ist ein Vergehen gegen Gott. Und es ist
absurd zu glauben, dass Gott in irgendeiner Situation tugendhaft beleidigt
werden kann.
Dies ist so offensichtlich, dass es überflüssig
erscheint, es zu sagen. Doch wie oft ist es in der Praxis notwendig, sich an
diesen Grundsatz zu erinnern?
So hat zum Beispiel niemand das Recht, sich aus
Toleranz gegenüber Freunden und in der Absicht, deren Sympathie zu erwecken, unsittlich
zu kleiden, zügellose oder frivole Manieren von Menschen mit unbändigem
Lebenswandel anzunehmen, leichtsinnige, verdächtige oder gar falsche Ideen zur
Schau zu stellen oder mit Lastern zu prahlen, die er in Wirklichkeit - Gott sei
Dank - nicht hat.
Dass ein Katholik, um ein anderes Beispiel zu
nennen, der sich seiner Treuepflicht gegenüber der Scholastik bewusst ist, sich
zu einer anderen Philosophie bekennt, nur um in einem bestimmten Milieu
Sympathien zu gewinnen, ist eine unzulässige Form der Toleranz. Denn gegen die
Wahrheit sündigt, wer sich zu einem System bekennt, von dem er weiß, dass es
Irrtümer enthält, auch wenn diese nicht gegen den Glauben sind.
Aber die Pflichten der Intoleranz gehen in Fällen
wie diesen noch weiter. Es reicht nicht aus, dass wir uns vom Bösen fernhalten.
Es ist auch notwendig, dass wir es niemals gutheißen, weder durch Handeln noch
durch Unterlassungen.
Ein Katholik, der angesichts der Sünde oder des
Irrtums eine Haltung des Mitgefühls einnimmt, sündigt gegen die Tugend der
Intoleranz. Dies ist der Fall, wenn er mit einem unbefangenen Lächeln einem
unmoralischen Gespräch oder einer unmoralischen Szene beiwohnt oder wenn er in
einer Diskussion anderen das Recht zugesteht, eine willkürliche Meinung über
die Religion zu vertreten. Hier geht es nicht um den Gegner, sondern um seine
Fehler oder Sünden. Das ist eine Billigung des Bösen. Und so weit darf ein
Katholik niemals gehen.
Manchmal geht man jedoch so weit, dass man meint,
man habe sich nicht gegen die Intoleranz versündigt. Das passiert, wenn ein
gewisses Schweigen angesichts eines Fehlers oder Übels den Eindruck einer
stillschweigenden Zustimmung erweckt.
In all diesen Fällen ist die Toleranz eine Sünde,
und nur in der Intoleranz besteht die Tugend.
Ein Vorhang aus Feuer, Eis oder Zellophan isoliert den intoleranten
Katholiken
Bei der Lektüre dieser Erklärungen kann es
vorkommen, dass einige Leser irritiert sind. Der Instinkt der Geselligkeit ist
dem Menschen angeboren. Und dieser Instinkt führt uns dazu, mit anderen
harmonisch und angenehm zusammenzuleben.
Nun ist aber der Katholik unter immer mehr
Umständen gezwungen, im Rahmen der Logik unserer Argumentation vor der Welt das
heroische „non possumus“ eines Pius
IX. zu wiederholen: wir können nicht nachahmen, wir können nicht zustimmen, wir
können nicht schweigen. Bald entsteht um uns herum jene Atmosphäre des kalten
oder heißen Krieges, mit der die Verfechter der Irrtümer und Moden unserer Zeit
mit unerbittlicher Intoleranz und im Namen der Toleranz all jene verfolgen, die
es wagen, nicht mit ihnen übereinzustimmen. Ein Vorhang aus Feuer, aus Eis oder
einfach aus Zellophan umgibt und isoliert uns. Eine verschleierte soziale
Exkommunikation schiebt uns an den Rand der modernen Gesellschaft. Doch hat der
Mensch davor fast so viel Angst wie vor dem Tod. Oder gar mehr als vor dem Tod
selbst.
Übertreiben wir nicht. Um in einem solchen Umfeld
das Gesellschaftsrecht zu erhalten, arbeiten Männer, bis sie sich mit
Herzinfarkten und Angina pectoris
umbringen; Frauen, die wie die Asketen der Thebaida fasten und damit ihre
Gesundheit ernsthaft aufs Spiel setzen. Nun, um ein solches
„Gesellschaftsrecht“ von solchem „Wert“ zu verlieren, nur aus Liebe zu
Prinzipien... muss man die Prinzipien wirklich sehr schätzen.
Und dann ist da noch die Faulheit. Ein Thema
studieren, es zu verstehen, immer alle Argumente parat zu haben, um eine
Position zu rechtfertigen... wie viel Mühe... wie viel Faulheit. Die Faulheit
zu reden, zu diskutieren, natürlich. Aber noch mehr Faulheit zu studieren. Und
vor allem die große Faulheit, ernsthaft über etwas nachzudenken, etwas zu
verstehen, sich mit einer Idee, einem Prinzip zu identifizieren! Die subtile,
unmerkliche omnimodale (allfältige) Trägheit, ernsthaft zu sein, ernsthaft zu
denken, ernsthaft zu leben, wie viel nimmt sie von dieser unbeugsamen,
heldenhaften, unerschütterlichen Intoleranz weg, die bei bestimmten
Gelegenheiten und in bestimmten Angelegenheiten (bei so vielen Gelegenheiten,
in so vielen Angelegenheiten wäre es besser zu sagen) heute wie immer die
Pflicht des wahren Katholiken ist.
Faulheit ist die Schwester der Sorglosigkeit.
Viele werden sich fragen, warum so viel Mühe, so viel Kampf, so viel Opfer,
wenn doch eine Schwalbe keinen Sommer macht und unsere Einstellung andere nicht
besser macht. Seltsamer Einwand! Als ob wir die Gebote praktizieren müssten,
nur damit andere sie auch praktizieren, oder wir davon befreit wären, solange
andere uns nicht nachahmen.
Wir bezeugen vor den Menschen unsere Liebe zum
Guten und unseren Hass auf das Böse, um Gott die Ehre zu geben. Und selbst wenn
die ganze Welt uns Vorwürfe machen würde, sollten wir dies auch weiterhin tun.
Die Tatsache, dass andere uns nicht folgen, schmälert nicht die Rechte, die
Gott auf unseren vollständigen Gehorsam hat.
Aber das sind nicht die einzigen Gründe. Es gibt
auch Opportunismus. Mit den vorherrschenden Trends Schritt zu halten ist etwas,
das alle Türen öffnet und alle Karrieren erleichtert. Prestige, Komfort, Geld,
alles, alles wird einfacher und leichter zu erreichen, wenn man mit dem
vorherrschenden Einfluss einverstanden ist.
Man sieht also, wie viel die Pflicht zur
Intoleranz kostet. Das ist der Ausgangspunkt für den folgenden Artikel, in dem
wir uns mit den Grenzen der Unnachgiebigkeit und den tausend Mitteln der
Spitzfindigkeit beschäftigen wollen.
Bild: „Die
Flucht aus Sodom“ by Sibeaster - Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9498969
Übersetzt aus dem
Portugiesischen mit Hilfe von DeepL.com (kostenlose Version) von „O que é
intolerância?“ in „Catolicismo“, Nr. 75, von März 1957.
© Nachdruck oder
Veröffentlichung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.
„Was ist
Toleranz?“ erschien erstmals in
deutscher Sprache in www.p-c-o.blogspot.com
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