Opfer des Nationalsozialismus und des Kommunismus
Die aus dieser Lage hervorgegangene Stimmung gegen
Russland ließ sich 1905 für kurze Zeit von den Erfolgen der anti-zaristischen
Revolution täuschen, in der bereits die Vorzeichen des Kommunismus zu erkennen
waren. Im Ersten Weltkrieg wurde die alte litauische Hauptstadt Kaunas 1915
dann von deutschen Truppen besetzt. Nach dem Triumph der Oktoberrevolution 1917
zog das litauische Parlament die Selbständigkeit unter deutschem Protektorat
vor. Als aber dann 1918 das Königreich Litauen ausgerufen werden sollte, fielen
diese Pläne dem Sturz der zentralen Monarchien zum Opfer. Unter englischem und
französischem Schutz wurde Litauen nun eine Republik, die sich wiederholt gegen
Gebietsansprüche Polens und Angriffe gegen die Unabhängigkeit des Landes zur
Wehr zu setzen hatte.
1939 besetzte Hitler Klaipeda (das frühere Memelgebiet im
nördlichen Ostpreußen) und kurz darauf drang die Rote Armee in Wilna ein. Auf
diese Weise sollte sich der abscheuliche, am 23. August 1939 von den Vertretern
des deutschen Nationalsozialismus und des russischen Kommunismus unterzeichnete
Ribbentrop-Molotow-Pakt auch auf Litauen auswirken. Hitler versicherte Stalin
in diesem Pakt, dass er sich einer Besetzung Litauens durch die kommunistischen
Truppen nicht widersetzen würde. Am 28 September wurde diese Abmachung
dahingehend ergänzt, dass Litauen, abgesehen von einem schmalen Grenzstreifen
im Süden des Landes, völlig in sowjetische Hände übergehen sollte. 1941 wurde
auch dieses Gebiet gegen Zahlung einer Entschädigung an Deutschland an die
Russen abgetreten. Kurz darauf wurde Litauen offiziell in die sogenannte
Sowjetunion aufgenommen. Am selben Tag, an dem die Truppen Nazideutschlands in
Paris einzogen, brachte die Rote Armee Litauen in ihre Gewalt.
Die Besetzung durch die Nazis und dann durch die
Kommunisten hatte zur Folge, dass die Bevölkerung Litauens mehrere
Verhaftungswellen über sich ergehen lassen musste: Zuerst hatten die Deutschen
rund 300.000 unerwünschte Litauer umgebracht, dann kamen 1940 die Russen und
deportierten etwa 145.000 Litauer. Und immer wieder wurden zahllose Katholiken
festgenommen und zu Tode gefoltert. In der Nacht vom 14. auf den 15 Juni
pferchten die Russen rund 35.000 Männer, Frauen und Kinder in
Viehtransportwaggons zusammen und verfrachteten sie nach Sibirien in
Konzentrationslager. Zwischen 1944 und 1953 (Todesjahr Stalins) wurden
schätzungsweise 600.000 Litauer deportiert. Die große Mehrheit davon hat die
Heimat nie wiedergesehen.
„Schandfleck unserer Zeit“
Die Erinnerung an die erst vor kurzem zu Ende gegangene
Geschichte der sowjetischen Unterdrückung, die sich über mehr als ein halbes
Jahrhundert erstreckt hat, ist noch immer sehr lebendig. Die Statthalter
Moskaus zwangen den Menschen in den Sowjetrepubliken während all dieser Jahre
eine Herrschaft auf, die soviel Elend und Knechtschaft mit sich brachte, dass
die damals von Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt XVI., geleitete
Kongregation für die Glaubenslehre diese in einer Instruktion zu Recht als
einen „Schandfleck unserer Zeit“ bezeichnete (1).
Zahllose Werke und Unterlagen bezeugen das Ausmaß und die
Grausamkeit dieser Tyrannei. Gegen sie hat sich Plinio Corrêa de Oliveira immer
wieder in seinen Reden, Vorträgen und Beiträgen, vor allem aber in den von ihm
geleiteten Presseorganen Legionário und Catolicismo, ausgesprochen.
Litauischer Kongress in São Paulo
Der Gründer der TFP ließ es aber nicht bei bloßen Worten
bewenden. Er nahm Kontakt zu führenden Vertretern von in São Paulo ansässigen
Flüchtlingsgruppen aus den unterdrückten Völkern auf, um sie im Kampf gegen die
kommunistische Unterdrückung in ihren Heimatländern zu unterstützen. In diesem
Sinne versuchte er, sie in einer repräsentativen, an gemeinsamen Grundsätzen
orientierten Vereinigung der vom Kommunismus unterdrückten Völker
zusammenzuführen. Die in den sechziger Jahren aus diesen Bemühungen
hervorgegangene Organisation nannte sichPro Libertate und setzte sich aus
Vertretern der wichtigsten Flüchtlings-„Kolonien“ in São Paulo zusammen.
Als in dieser Stadt der III. Interamerikanische
Litauer-Kongress stattfand, trat Plinio Corrês de Oliveira in seiner Rede für
die Durchführung einer Unterschriftensammlung auf internationaler Ebene ein,
mit der der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika aufgefordert werden
sollte, jeden Dialog mit dem Kreml davon abhängig zu machen, dass den
baltischen Staaten dafür die Unabhängigkeit zu gewähren sei. Bei dieser Gelegenheit
konnte sich sein Vorschlag jedoch nicht gegen die damals äußerst intensiv
geführte Propaganda zugunsten einer Entspannung gegenüber den kommunistischen
Ländern durchsetzen. Doch sollte der Gedanke später mit den Bemühungen um die
Unabhängigkeit Litauens wieder aufleben.
Um die ganze Entwicklung besser verstehen zu können, die
schließlich zur Befreiung Litauens geführt hat, ist es unerlässlich, zuerst
einen Blick auf die Vorgänge in der damaligen kommunistischen Welt zu werfen.
Die Unzufriedenheit wächst
Sowohl in Russland als auch in den Satellitenstaaten
führten die Ausmerzung der Freiheit, das Elend und die Tyrannei der Gefängnisse
und Konzentrationslager zu einem tiefen, ständig zunehmenden Unbehagen. In
einer Veröffentlichung zu diesem Thema bezeichnete Plinio Corrêa de Oliveira
dieses Unbehagen als eine Unzufriedenheit in Großbuchstaben, denn in ihm
strömte alle regionale und nationale, wirtschaftliche und kulturelle
Unzufriedenheit zusammen, die sich im Laufe vieler Jahrzehnte angesammlet hatte.
Er drückte dies in folgenden Worten aus:„Es war eine totale Unzufriedenheit,
die vom Einzelnen stumm und wie gelähmt in seiner Wohnung, seiner Hütte, seiner
Kate ertragen wurde, wo die Familie bereits aufgehört hatte zu bestehen und an
die Stelle der Ehe das Konkubinat getreten war.
Unzufriedenheit, weil die Kinder dem elterlichen „Heim“
entzogen und dem Staat überantwortet wurden, der nun ganz allein für ihre
Erziehung zuständig war.
Unzufriedenheit auch am Arbeitsplatz, wo Faulheit,
Untätigkeit und Langeweile einen großen Teil der Zeit ausfüllten und die
schäbigen Löhne nur zum Kauf von Lebensmitteln und Waren in ungenügender menge
und von schlechter Qualität, dem typischen Produkt einer verstaatlichten und
vom Staatskapitalismus gegängelten Industrie, reichten. In den langen
Schlangen, die vor Geschäften anstanden, aus deren fast leeren Regalen das
schamlose Elend bleckte, wurde flüsternd vom qualitativen und quantitativen
Mangel an allem gesprochen.
Unzufriedenheit vor allem auch, weil fast überall der
Gottesdienst verboten war, die Kirchen geschlossen waren und in den Schulen der
Religionsunterricht durch die Pflichtfächer Materialismus und Atheismus, kurzum
durch die kommunistische Unreligion ersetzt worden war.“ (2) So ist es durchaus
verständlich, dass sich die unterdrückten Völker – sowohl in der sogenannten
Sowjetunion als auch in ihren Satellitenstaaten – danach sehnten, das
unerträgliche Joch endlich abzuschütteln. In dieser Hinsicht konnten die
Aufstände in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 als Vorbilder
angesehen werden.
Sozialismus „mit menschlichem Gesicht“
Der Aufstand in Ungarn wurde gewaltsam niedergeschlagen.
Der „Prager Frühling“ dagegen wurde von einem Vertreter des sogenannten
Sozialismus „mit menschlichem Gesicht“ angeführt, wie ihn übrigens auch die
Sozialistische Partei Frankreichs des Präsidenten François Mitterand für die
achtziger Jahre in ihr Programm aufgenommen hatten. In einer Botschaft, die von
den TFP-Vereinigungen in den wichtigsten Zeitungen der Welt mit einer
Gesamtauflage von 33 Millionen Exemplaren in einer Vielzahl von Ländern
veröffentlicht wurde, hat Plinio Corrêa de Oliveira dem Sozialismus diese Maske
eines „menschlichen Gesichts“ heruntergerissen. (3) Worin bestand dieser
„Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ Mitterands und seiner Partei im
Wesentlichen? Es ging vor allem darum, in den Familien, in den Schulen, in den
Unternehmen die Selbstverwaltung einzuführen. Statt zurückzuweichen, sollte
damit ein Schritt „über den Kommunismus hinaus“ getan werden; gemäß den Lehren
von Marx und Lenin war man bereit, den Staat und alle seine Einrichtungen zu
zerschlagen und an seine Stelle die Anarchie der Selbstverwaltung zu setzen.
(4)
Obwohl es von der Presse und von einem bestimmten
wirtschaftlichen, politischen und religiösen Establishment als
unerschütterlicher Riese hingestellt wurde (und bis zu einem gewissen Punkt
immer noch wird) – vollmundig sprach man von der anderen „Supermacht“ –, war das Sowjetimperium in Wirklichkeit nicht
mehr als ein Leprakranker, dessen faulendes Fleisch zusehends zerfiel. Die
Kraft der „Supermacht“ beruhte vor allem auf der Unterstützung und den Mitteln,
die aus dem Westen kamen. Nachdem nun der „Sozialismus mit menschlichem
Gesicht“, der die westliche Welt unmittelbar den fortschrittlichsten Zielen des
Kommunismus entgegenführen sollte, entlarvt worden war, brachten die
Rädelsführer der marxistischen Revolution eine neue Komödie auf den Spielplan,
indem sie den neuen sowjetischen Generalbevollmächtigten, Michail Gorbatschow,
ins Rampenlicht treten ließen.
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(1) Vgl. Instruktion über einige Aspekte der Theologie
der Befreiung, vom 6. August 1984, XI, 10. In vollem Wortlaut heißt es dort:
„Nicht zu verkennen ist dieser Schandfleck unserer Zeit: Unter dem Vorwand,
ihnen die Freiheit zu schenken, werden ganze Nationen knechtschaftlichen
Bedingungen unterworfen, die des Menschen unwürdig sind“.
(2) Vgl.
Plinio Corrêa de Oliveira: „Comunismo e anticomunismo na orla da última década
deste milênio“, in Catolicismo, São Paulo, März 1990.
(3) Die Botschaft erschien zuerst in der Washington Post
der nordamerikanischen Hauptstadt und in der Frankfurter Allgemeine Zeitung in
Frankfurt/Main am 9. Dezember 1981, wo sie jeweils sechs Seiten einnahm; es
folgten weitere 46 wichtige Zeitungen der westlichen Welt. Eine Zusammenfassung
erschien in verschiedenen internationalen Ausgaben des Reader’s Digest sowie in
23 weiteren Presseorganen.
(4) Cf.
Plinio Corrêa de Oliveira: Les têtes tombent, TFP, Paris 1981,
Drei Jahzehnte... 3. Teil
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