Das Gebet des „Angelus“ ist eine sehr kurz gehaltene, ausgesprochen
logische und sehr gut aufgebaute Meditation über die Verkündigung. Wie es bei
allen Lehren der Kirche geschieht, wird über die logische und folgerichtige
Struktur, in der unerwartete Vollkommenheiten zum Vorschein kommen, eine Welt
von guten Wirkungen geschaffen, die eine wahre Schönheit und mit dieser
Struktur ein Ganzes bildet.
Schauen wir uns einmal den Vorgang der Verkündigung an:
1. Punkt: Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft
und sie empfing vom Heiligen Geist;
2. Punkt: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe
nach deinem Wort;
3. Punkt: Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter
uns gewohnt.
Das sind die drei Aspekte der Verkündigung: Sie
verherrlichen die Tatsache, dass es eine Engelsbotschaft gab, dass die Haltung
Unserer Lieben Frau eines vollkommenen Gehorsams gegenüber dieser Botschaft war,
dass das Wort nicht nur fleischgeworden ist, sondern unter uns gewohnt hat. In
diesen drei Punkten verdichtet sich die gesamte Verkündigungsgeschichte. Und
auf eine so synthetische und so kurze, so logische und so dichte Weise, dass
nichts hinzugefügt werden braucht. Jedem Punkt folgt das Gebet eines Ave-Maria,
das eine Verherrlichung der Muttergottes ist, für jede Wahrheit, die der Engel
verkündete.
Und da dies das größte Ereignis der Geschichte der
Menschheit ist und die größte Ehre des menschlichen Geschlechts genau darin
besteht, dass das Wort unter uns Fleisch geworden ist und Wohnung genommen hat,
wurde es in der katholischen Frömmigkeit zur Gewohnheit im Morgengrauen, Mittags
und in der Abenddämmerung immer den „Engel des Herrn“ zu beten. So wiederholt
man in den drei Hauptteilen des Tages diese Wahrheiten und lobt die
Muttergottes für diese Wahrheiten und bittet sie um Gnaden durch diese
Wahrheiten.
Dieses Gebet ist so logisch, so kohärent, dass es nach einem
festen Glauben ruft, der sich von der Vernunft und Gedankenfolgerungen
nährt.
Und wie schön ist der „Angelus“ am Morgen, dann am Ende
des Tagewerkes gebetet. Aber um 6 Uhr nachmittags (wenn der Tag sich neigt) und
seine Farbtöne sich ändern, ändert sich auch der „Angelus“ in Nuancen: Wie
verschieden ist der zur Mittagszeit gebetete Angelus, wenn der Rhythmus der
Arbeit noch intensiv ist, und der Angelus der Abenddämmerung, wenn alles von einer
Sanftheit, einer Art geistiger Andacht umhüllt wird.
Wir sehen hier, wie die Kirche dieses Juwel, das der „Angelus“
ist, nimmt und es in den verschiedenen Stunden des Tages widerspiegeln lässt,
um aus ihm alle Schönheiten glänzen zu lassen. Da versteht man, wie in allem
was katholisch und auf dem Glauben gebaut ist, mit einem vom Heiligen Geist
gegebenen Instinkt alle Dinge gut und schön zu machen. Dann findet man eine
Welt der Harmonie vor, wie hier zum Beispiel die bewundernswerte Harmonie
zwischen der größten Milde, der größten Einfachheit, der größten Tiefe der
Begriffe und einer Art undefinierbarer Schönheit: einer Schönheit mit poetischen,
literarischen Ornamenten, die aber mit dieser Tiefe nicht kollidiert, sondern eine
Art Ergänzung dazu herstellt.
Stellen wir uns vor, dass den Text dieses Gebet, anstatt
von der christlichen Frömmigkeit im Laufe der Jahrhunderte entstanden worden zu
sein, einem Menschen von heute anvertraut worden wäre: Er müsste ein Gebet schreiben,
das jeden Tag am Morgen, am Mittag und am Nachmittag, im Laufe aller Jahre und
Jahrhunderte rezitiert werden sollte. Das Ergebnis würde sicher ein kleines Blitzgebet
mit irgendeinem nichtssagenden Unsinn, oder ein leeres, trockenes Gebet sein. Es
könnte alles sein, nur nicht ein „Angelus“.
Dem Menschen von heute und der ganzen katholischen
Umgebung fehlt jene Art von Geistesfülle, wo sich Dinge gleichzeitig in der
Linie der Logik, der Kohärenz, der Schönheit so natürlich ordnen, dass man
nicht einmal wahrnimmt, was dahinter an Wohlgedachtem, Wohlmeinendem, gut Gebetetem
und vor allem an Gutgeglaubtem steht. Eine Welt von Jahrhunderten bedeutet
dies.
So sehe ich, wie wir den Geist der katholischen Kirche in
all diesen Dingen des täglichen Lebens in der Kirche und aus ihren guten Zeiten
suchen sollen. In der Tradition der Kirche müssen wir uns ihr geöffnet sein, wir
müssen sie auch zerlegen und analysieren. Wenn man solche Dinge einer
rationalen Analyse unterwirft, kommen Sonnen aus ihrem Inneren heraus. Dies ist
der unerschöpfliche Reichtum des katholischen Geistes. Irgendetwas Einfaches, was man aufgreift, birgt
Wunderbares.
Das bedeutet keineswegs ein unbegrenztes Lob dem „Angelus“
von Millet, dem man bestimmt etwas Gutes und Schönes zusprechen kann, trotz einer
gewissen romantischen Note. Es ist also keine Bewunderung der romantischen Note
des Bildes von Millet.
Es gibt etwas Unsagbares, was mit der Schönheit der
christlichen Frömmigkeit verbunden ist: den „Angelus“, gebetet von einem Bauer,
von dem Priester, der sein Studium am Abend beendet, den „Angelus“, gebetet von
einem Kreuzritter, den „Angelus“, gebetet von einem Krieger der Reconquista
Spaniens, den „Angelus“, gebetet von einem Trappistenmönch in der Ruhe seiner Zelle.
Dies alles sind die tausend Farben eines bunten Glasfensters. Das Angelusgebet ist
so einfach, so leicht in seiner Zusammensetzung, alles so normal, dass es eben
aus diesem Grund ein echtes Juwel ist. Dies sollte uns dazu führen, mehr und
mehr Verehrer des „Angelus“ zu sein, ihn bei keiner Gelegenheit auslassen, sich
an ihn erinnern in unserem Morgengebet und an alles, was er beinhaltet. Wir
müssen uns daran erinnern, was der hl. Ludwig Grignion sagte: der „Angelus“ war
eine gewohnheitsmäßige Andacht des Rittertums.
Dieser
Text ist übernommen aus einem informellen Vortrag von Professor Plinio Corrêa
de Oliveira, den er am 1. März 1965 hielt. Er wurde frei aus dem
Portugiesischen übersetzt und angepasst für die Veröffentlichung ohne
Überarbeitung von Seiten des Autors.
Anm.: Der Angelus wurde 1571
von Papst Pius V. als Gebet zur Abwehr der drohenden Türkengefahr und
Islamisierung Europas eingeführt. (kathweb.de)
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