Was ist die „soziale Frage“ unserer Zeit?
Im Allgemeinen ist eine „soziale Frage“ jedes
Problem, das durch eine Anomalie im Leben der Gesellschaft entsteht. Sie
unterscheidet sich von einer „politischen Frage“, da diese die Organisation des
Staates betrifft. Niemand ignoriert, dass die Welt viele soziale Fragen erlebt
hat, die in Konflikten gipfelten: Kämpfe zwischen Bürgern und Adligen, zwischen
Sklaven und freien Menschen, zwischen Adligen und Bourgeoisie im Mittelalter und
im 16. Jahrhundert usw. Aber es ist ein Fehler anzunehmen, dass die einzige
Form der Lösung einer „sozialen Frage“ der Klassenkampf sei. Die Korruption
öffentlicher und privater Bräuche, die Auflösung aller Organismen, die die
soziale Struktur bilden, der Niedergang der Familie, der Berufsverbände, der
sozialen Klassen, der kommerziellen Redlichkeit, der Künste, all dies kann ein
Monstrum von „sozialem Problem“ darstellen, das die Gesellschaft in den Ruin
führt. Und ein soziales Problem dieser Art kann existieren, gedeihen und zu den
tragischsten Folgen führen, ohne dass es zu Kampf oder Rivalität zwischen den
Klassen kommt, aus denen der soziale Organismus besteht. Somit ist der
Klassenkampf eine Form von „sozialer Frage“, aber sie ist nicht die einzige und
nicht unbedingt die gefährlichste. Das Weströmische Reich zum Beispiel ging
aufgrund einer immensen „sozialen Frage“ zugrunde: die gesamte römische
Gesellschaft in Italien, wie auch in Gallien oder Iberien, war radikal und
absolut verrottet; aus diesem und allein diesem Grund gelang es den Barbaren,
die Römer zu beherrschen; die soziale Frage führte also zum Ruin der
Gesellschaft und des römischen Staates: dies bedeutete jedoch nicht, dass es im
Römischen Reich einen Klassenkampf gab.
* * *
Es ist ein Fehler anzunehmen, dass die soziale
Frage heutzutage nur noch aus dem Kampf zwischen Proletariern und Bourgeoisie
besteht. Wir leiden unter einem gesellschaftlichen Phänomen des Zerfalls von
Charakteren und Institutionen, das absolut so groß, so tief greifend und so
ansteckungsfähig ist wie das Römische Imperium in seinen letzten Tagen. Um die
Situation noch schlimmer zu machen, haben wir darüber hinaus noch einen
Klassenkampf, den es im Römischen Imperium nicht gab.
Gibt es bei uns auch Barbaren? Ja, und zwar
innerhalb unserer Grenzen. In unseren Tagen gibt es nicht wie in der Römerzeit
eine Trennung zwischen der barbarischen und der zivilisierten Welt. Auf unserer
zeitgenössischen Landkarte existieren nicht die beiden Gebiete klar abgegrenzt
wie vor der Invasion: auf der einen Seite das kaiserliche Territorium, wo die
dekadente Zivilisation ein Untergangsdasein fristete und auf der anderen Seite
die barbarische Welt, die Invasion, Plünderung, die allgemeine Zerstörung
plante. Heutzutage leben Barbaren in mitten unserer Zivilisation, und mehr
noch, sie werden aus ihrem eigenen Schoß hervorgebracht. Wenn nicht alle
Barbaren sind, ist fast niemand völlig immun gegen die Barbarei. Jeden Tag geht
ein bisschen mehr von dem verloren, was von unserer christlichen Zivilisation
übrig geblieben ist: hier wird ein Grundsatz geleugnet, dort eine Tradition
eingeschränkt, woanders ein gesunder Brauch aufgehoben. Heute sind wir weniger
christlich als gestern, morgen werden wir weniger christlich sein als heute.
Wenn alles, was am alten Gebäude der christlichen Zivilisation korrodiert,
zerkratzt und zerbricht, materielle Spuren hinterlassen würde und wenn diese
Überreste an einem Ort gesammelt und zusammen geführt werden könnten, könnten
wir besser mit den Augen des Leibes messen, was nicht jeder mit den Augen des
Geistes sieht. Mit Schrecken würden wir dann feststellen, welch fantastische
Ausmaße dieses Zerstörungsphänomen annimmt.
In diesem großen Kollektivverbrechen, in dem fast
jedem die Hände oder Finger mehr oder weniger mit dem Blut Christi gefärbt
sind, wird der Hass seiner schlimmsten Feinde nicht befriedigt. Sie wollen die
Todesqual beschleunigen. Sie wollen, dass man sofort, dass man vollständig,
dass man mit Gewalt, durch Eisen und Feuer zur letzten Stunde und zum Consumatum est der christlichen
Zivilisation komme. Das sind die Kommunisten.
Vor ein paar Tagen veranstalteten die Kommunisten
am Anhangabaú [im Zentrum der Stadt São Paulo – AdÜ] eine große Kundgebung und
versammelten mehr als 80.000 Auftragnehmer für dieses teuflische Projekt. Zwar
waren dort nicht alle Kommunisten, es gab auch Sympathisanten und Neugierige.
Es ist auch wahr, dass einige derjenigen, die dort waren, obwohl sie den Sieg
des Kommunismus wünschten, nicht genau wussten, dass die Kirche die Wahre Kirche
ist und dass sie durch ihren Angriff zu Angeklagten eines Verbrechens gegen
Gott selbst wurden. Das ist egal. Ihre Schuld bestand im Nichtwissen. Unser
Herr vollbrachte Wunder, die das gesamte jüdische Volk miterlebte. Wenn dennoch
viele im Moment der Passion noch nicht sicher waren, dass Er Gott ist, waren
sie selbst schuldig an dieser Unwissenheit. Und wenn sie sich aufgrund dieser
Unwissenheit zum Gottesmord verführen ließen, machten sie sich des Gottesmordes
schuldig. Und das geht so weit, dass wir nicht nur die Dämonen des Hohen Rates,
die wussten, wen sie töteten, und ihn töteten, weil sie wussten, wer er war,
Gottesmörder nennen, sondern das gesamte Volk Israel, und das, weil auch die
Unwissenden schuldig waren am Blut Gottes. Hier ist die Kirche Christi, und in
ihr leuchten die Charaktere der Göttlichkeit wie eine Sonne. Wer sich dieser
Eigenschaften nicht bewusst ist, nachdem er die heilige Taufe empfangen und
sich bewusst zum Glauben bekannt hat, ist daran schuldig. Wenn es jemanden
gibt, der sich aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Kirche von ihr trennt und ihre
Lehre, ihre Institutionen und die von ihr hervorgebrachte Zivilisation hasst,
dann ist er ein Schuldiger am Blut Christi. Wenn es einen Katholiken gibt, der
den Punkt erreicht hat, vom Glauben abzufallen und sich den Reihen der
Zerstörer der christlichen Zivilisation und der Kirche Jesu Christi
anzuschließen, dann hat er Schuld am Blut Christi, ganz gleich, durch welchen
Grad an Unwissenheit er ins Verbrechen hindurchgerutscht ist. Und wenn die unwissenden
oder gleichgültigen(?) Katholiken oder Ex-Katholiken, die dort waren, schuldig
am Blute Christi sind, was ist dann mit den anderen, die dort waren, und
wussten, was gewollt war, was geplant war, wohin das alles führen würde, und
wem man mit all dem verfolgt?
* * *
Was hat so viele Menschen zu so großen Verbrechen
geführt? Man sagt, dass es der Hunger ist. Wird das wahr sein?
Lassen wir jegliche Demagogie beiseite und schauen
uns die Dinge direkt an.
Zunächst müssen wir bedenken, dass die Menschen,
die dort waren, größtenteils nicht zu der Gesellschaftsschicht gehörten, die am
meisten darunter leidet. Leider haben wir immer noch Arbeitskräfte, die in Not
sind. Aber man muss anerkennen, dass sie eine Minderheit darstellen. Die
überwiegende Mehrheit unserer Arbeiter lebt im wahren Überfluss. Das weiß
jeder. Das Klein- und Mittelbürgertum leidet enorm: bescheidene Beamte, Witwen
und Waisen, die von geringen, abgewerteten Einkommen leben, von Renten, die
durch die Inflation unzureichend geworden sind, Lehrer, die schlechter bezahlt
werden als ein Straßenbahnführer oder ein Schuhputzer, und dennoch gezwungen
sind, sich einem bestimmten Kleidungsstil anzupassen. Das sind die
Hauptleidtragenden. Nun, das sind nicht die Hauptrebellen! Wir finden die Rebellen
in allen Klassen und sogar bei belanglosen Salonjungen. Also ist es nicht der
Hunger, der den Aufstand verursacht.
Revolte? Sagen wir besser, Apostasie. Kann Hunger
allein einen Abfall vom Glauben herbeiführen? Kann er das Einzige sein, das
dafür verantwortlich ist, dass jemand seinen Glauben verliert?
Nein. Es ist katholische Lehre, dass niemand über
seine Kräfte hinaus versucht wird. Gott gibt jedem die nötige Gnade. Wenn also
ein Katholik sündigt, sündigt er aus freien Stücken. Der Anlass zur Sünde kann
Hunger, Wollust oder irgendetwas anderes sein. Aber das Sündigen ist seine eigene
Schuld.
Der Grund für so viele Abtrünnige liegt also viel
mehr in der Schwäche der Überzeugungen und des religiösen Eifers des Sünders,
in seinem Mangel an Großzügigkeit gegenüber Gott. Und es besteht nur in zweiter
Linie in dem Anlass, der ihn zur Sünde verleitete.
* * *
Aus alledem folgt, dass der Kommunismus und der
Klassenkampf heutzutage nicht nur aus rein wirtschaftlichen Gründen entstehen.
Dazu gehört sicherlich das Problem, aber nicht als wichtigsten Grund. Und die
vielen Glaubensabfälle sind nur ein Aspekt der enormen gegenwärtigen
Charakterkrise, die letztlich eine religiöse Krise ist.
Wie lässt sich angesichts all dessen die Naivität
derjenigen beurteilen, die glauben, dass mit der Lösung der wirtschaftlichen
Frage auch die soziale Frage gelöst sei? Derjenigen, die der Meinung sind, dass
gegen den Kommunismus keine Gewalt eingesetzt werden darf, wie gegen die
Kriminalität, weil der Kommunismus Hunger und kein Verbrechen ist?
Die Flammen der kommunistischen Predigt breiten
sich aus mit der Geschwindigkeit des Feuers. Die intelligentesten, effektivsten
und sichersten Sozialreformen wirken nur langsam. Lange bevor die Therapie ihre
Wirkung zeigt, wird der Patient den Arzt erdrosselt haben.
Wenn es nur der Arzt wäre, das ist wenig. Der Arzt
und alle, die weder mit der Naivität noch mit der Minderheit dieser traurigen
„Heiler“ nicht einverstanden waren.
Aus dem Portugiesischen „Reflexões sobre a luta
de hoje“ in O “Legionário” vom 19. Januar 1947.
Diese deutsche Fassung „Überlegungen zum heutigen
Kampf“ erschien erstmals
in www.p-c-o.blogspot.com
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