„Folha de S. Paulo“, 01.07.1973
Ich nannte im letzten Artikel ein Problem:
Wie konnte die psychopolitische Barriere
des Entsetzens über den Kommunismus im Westen so dünn werden, dass die
sowjetisch-amerikanische Annäherung heute von der freien Welt toleriert wird,
was vor fünf oder zehn Jahren sich sogar die Steine auf der Straße vor Empörung
erhoben hätten?
Mit anderen Worten, genau in dem Moment,
in dem Russland, geschwächt durch die unheilbare Deformation seiner kollektivistischen
Wirtschaft, sich vor dem westlichen Kapitalismus niederwirft und ihn um Gold,
Weizen, Know-how und Techniker bettelt, rettet der Kapitalismus das kommunistische
Regime vor dem Untergang und geht eine idyllische Allianz mit dem Kreml ein um
ihm alles zu gewähren, was er von ihm verlangt. Und diese Verirrung wird von
der riesigen Menschenmenge leichtfertig hingenommen.
Auf den ersten Blick würde man sagen, dass
das gegenwärtige Desinteresse der westlichen Meinung an ideologischen Fragen zu
einer Gleichgültigkeit gegenüber der Kontroverse zwischen Kapitalismus und
Kommunismus führt und diese Atonie hervorbringt. In Wirklichkeit ist eine
solche Erklärung unzureichend.
Was bedeutet „ideologisches Desinteresse“?
Es ist die Gleichgültigkeit zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Gut und
Böse. Es ist die zynische Vergöttlichung reiner materieller Werte. Nun daraus
entsteht eine weitere Frage: Wie kam es zu einer solchen Gleichgültigkeit in
der öffentlichen Meinung, die vor nicht allzu vielen Jahren durch den
gigantischen doktrinären Konflikt zwischen Religion und Atheismus,
Privateigentum und Kollektivismus, Privatinitiative und Dirigismus sich hat
mitreißen lassen?
Diese Frage ist umso notwendiger, als sie
eine weitere, noch akutere Frage mit sich bringt: Angesichts der Tatsache, dass
von der zynischen ideologischen Gleichgültigkeit des Westens nur der
Kommunismus profitiert, inwieweit ist er der Urheber dieser Gleichgültigkeit?
* * *
Dieses ganze Thema ist äußerst nebelig.
Untersuchen wir noch weitere.
Aus der Sicht a-ideologischer Menschen,
welches auch ihr wirtschaftliches Niveau sei, ist die Rettung des Kommunismus
durch den Westen absurd.
Tatsächlich ist das Überleben des
Kommunismus in Russland sehr schädlich für die Reichen und Wohlhabenden, deren Situation
ständig durch die rote Propaganda erschüttert wird. Und das Gleiche gilt auch
für die Armen, denn sobald der Kommunismus im Westen siegt, werden sie aus
eigener Erfahrung die Reize des „marxistischen Paradieses“ kennenlernen: Mangel
an allem, Warteschlangen, Polizeirepression usw., genau wie es in Kuba oder
Chile geschieht.
Wie lässt sich dann erklären, dass
a-ideologische Menschen auf allen Ebenen mit Sympathie die Wiederherstellung
der Kräfte des roten Drachen betrachten, der alle zu verschlingen droht?
* * *
Dem westlichen Menschen mangelt es nicht
an Intelligenz, Kultur und Gelehrsamkeit. Wie kann man erklären, dass er mit
solchen Mangel an Vision handelt?
Im Bereich des Privatlebens beobachten wir
häufig ähnliche Fehlentwicklungen im Verhalten von Menschen mit unbestreitbaren
intellektuellen Ressourcen.
So wird bestimmten Patienten eine
bestimmte Kur empfohlen, wenn sie nicht sterben wollen. Einige beugen sich den
Tatsachen und sehen die Katastrophen voraus, zu denen ihre Situation sie führen
könnte. Und nehmen die Opfer auf sich, die nötig sind, um sie zu vermeiden.
Andere hingegen sind unpassend und unvorsichtig. Sie akzeptieren das Urteil der
Wissenschaft als sicher, hoffen aber, dass „durch ein Glücksfall“ ihnen nicht
das widerfährt, was der Arzt vorhergesagt hat. Sie spüren die Symptome der sich
ausbreitenden Krankheit, wollen sie aber nicht richtig deuten. Und so versinken
sie im Tod.
Die ersten sind gemäßigt. Sie wissen, wie
sie ihre Wünsche und Impulse kontrollieren können. Die anderen sind auf ihre
Art süchtig. Das Verhalten des Süchtigen angesichts der drohenden Katastrophe
ist immer von Unlogik und Unvorsichtigkeit geprägt.
In den letzten Jahrzehnten ist die
Angewohnheit, in Vergnügungen der Konsumgesellschaft zu leben, zunehmend zur Sucht
geworden. Aber um diese Freuden in vollen Zügen genießen zu können, ist
Nachlässigkeit unerlässlich.
Die kommunistische Vogelscheuche bringt
genau diese Sorge mit sich. Angesichts dieser Vogelscheuche nimmt der
Spießbürger die charakteristische Haltung aller Süchtigen ein. Nicht
nachdenken, in der Erwartung auf einen „Glücksfall“, der Sie von der drohenden
Gefahr befreit. Und verschließt die Augen vor den Symptomen des Übels, das
voranschreitet.
Folglich, solange die kommunistische
Propaganda ohne großen Lärm betrieben wird, stößt sie nicht auf größere
Hindernisse.
Die Führer des internationalen Kommunismus
haben dies vollkommen verstanden. Heutzutage lächeln sie. Sie zeigen sich arm
und daher bis zu einem gewissen Grad sind sie harmlos. Sie reden nur über
Abrüstung, über Friedensverträge. In der Vergangenheit exportierten sie in die
ganze Welt struppige Demagogen und Randalierer mit Bomben in der Hand. Jetzt
schicken sie Balletttänzer, Zirkusse, technische Ausstellungen...
Und gewinnen an Boden, während die Sucht
den genüsslichen Westen „entideologisiert“.
* * *
José Carlos Castilho de Andrade, ein ausgezeichneter Freund aller Zeiten und brillanter Direktor der TFP, zeigte mir in einer aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Epoca“ aus Mailand ein Beispiel, wie die kommunistische Propaganda die Verbraucher des westlichen Establishment verarbeitet. Es handelt sich um eine ganzseitige Werbung für „Moskovskaya“-Wodka, „prodotta e imbottigliata in Russia“.
Ein großes Foto zeigt den von einer Truppe
bewachten Winterpalast der Zaren. In der Bildunterschrift heißt es: „Bewaffnete
Soldaten und Matrosen der Revolution im Einsatz in einem Panzerwagen vor dem
kürzlich eroberten Winterpalast.“
Dann kommt der Kommentar: „Kein Brot,
keine Milch, kein Fleisch. Doch nie ohne Gewehre und ohne Wodka. Wodka ist eng
mit ihren hellsten und dunkelsten Tagen verbunden und insbesondere mit ihren
härtesten Überlebenskämpfen und stellt für das russische Volk mehr als ein
einfaches Getränk dar.“ Es ist eine diskrete Art daran zu erinnern, dass die
Wodka-Betrunkenheit zum Ausbruch der Revolution beitrug, die den riesigen
russischen Boden mit Blut durchtränkte. Und die Hauptnote dieses Getränks ist
heute, laut seinen Herstellern, seine revolutionäre und blutrünstige Bedeutung.
In der Anzeige heißt es weiter: „Wodka
wurde zum Symbol der Liebe des russischen Volkes für das Land, das es pflügt,
und das Korn, das es sät. Aber auch für das Gewehr, das er trägt, und die
Kugeln, die er abfeuert, wenn es notwendig ist. Damals, in Petersburg, war es
notwendig.“
Die Reaktion des kohärenten und
weitsichtigen nichtkommunistischen Verbrauchers besteht darin, den Kauf eines
Getränks zu verweigern, dem die Werbung einen so unheilvollen symbolischen Wert
beimisst. Aber die Haltung von Nichtkommunisten, die süchtig danach sind, zu
konsumieren, was sie wollen, ist ganz anders. Wenn „Moskowskaja“ in Reichweite
ihres Geldbeutels steht und ihren Gaumen verführt, kaufen sie ihn und trinken
ihn genussvoll.
Wenn er wegen seiner Inkonsequenz
kritisiert wird, wird er spaßig sagen, dass er keine ideologischen Vorurteile
hat. Wenn sie ihm zeigen, dass der Kauf des Getränks subversive Propaganda
fördert, wird er sagen, dass dies nur auf lange Sicht geschehen wird und dass
insgesamt vielleicht ein unvorhergesehenes Ereignis den Schaden verhindern
wird. Oder er sagt nichts und trinkt noch ein Glas. Wenn jemand darauf besteht,
wird er diesen als intolerant, inquisitorisch, mittelalterlich usw.
brandmarken. Und er wird noch ein Glas trinken. Er wird über die guten Seiten
des Kommunismus und die Notwendigkeit sprechen, den Armen zu helfen.
Wenn ihm jemand zeigt, dass der
Kommunismus die Armen in das schwarze Elende führt, wird er dem Einwender
befehlen, Kartoffeln zu pflanzen. Und er wird noch ein Glas trinken.
Und am Ende wird er sich noch als einen
modernen, verständnisvollen und klaren Menschen halten.
* * *
Es sei darauf hingewiesen, dass die
Werbung nicht besagt, dass es notwendig ist, den Kommunismus im heutigen
Italien einzuführen. Sie erinnert nur an ein Ereignis, das sich vor einem
halben Jahrhundert in Russland ereignete…
Der Fall des Wodkas ist nur ein Beispiel
für diese Art verschleierter kommunistischer Propaganda, die sich um die
kleinen Dinge des Alltags dreht und genau so dosiert ist, dass sie genau die Menge
an Aggressivität hat, um den nach tausend unschuldigen Genüssen der
Konsumgesellschaft süchtigen Bürger nicht aus seiner Apathie aufzuwecken. Und
so lässt die Sucht nach Genüssen, wenn geschickt ausgenutzt, die Barriere des
Schreckens gegenüber dem Kommunismus dünner werden, während der Westen gesättigt
vor sich hin vegetiert.
* * *
Wie lässt sich die Situation lösen? Den
„Süchtigen“ die Augen für die Katastrophe öffnen, zu der seine Sucht ihn hinreißt.
Dies habe ich im Rahmen meiner
Möglichkeiten in diesem Artikel versucht.
* * *
*) Hergestellt und abgefüllt in Russland
Aus dem Portugiesischen von „Prodotta e
Imbottigliata in Rússia“ in „Folha de S. Paulo“, 01.07.1973.
„Hergestellt und abgefüllt in Russland“ erstmal
auf Deutsch in www.p-c-o.blogspot.com
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