Mittwoch, 9. Januar 2019

Das Reich Christi



Die heilige Kirche wurde durch unseren Herrn Jesus Christus gegründet, im die Wohltaten der Erlösung für ewige Zeiten den Menschen zuzuwenden. Wie die Erlösung selbst findet die Kirche ihre letzte Bestimmung darin, die Sünden der Menschen zu sühnen durch die unendlich kostbaren Verdienste des Gott-Menschen, um so Gott die äußere Ehre zurückzugeben, die die Sünde ihm geraubt hatte, und den Menschen die Pforten des Himmels zu eröffnen. Dieser Endzweck liegt ganz auf übernatürlichem Gebiet; er bezieht sich letztlich auf das ewige Leben. Die Kirche ist daher absolut erhaben über alles, was nur natürlich, irdisch und vergänglich ist. Das hat unser Herr Jesus Christus ausdrücklich bestätigt, als er zu Pilatus sagte: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» (Joh. 18, 36).
Das irdische Leben unterscheidet sich deshalb in tiefgehender Weise vom ewigen Leben. Aber diese beiden Bereiche sind nicht vollständig voneinander getrennt. Nach dem Plan der göttlichen Vorsehung besteht eine innige Beziehung zwischen dem irdischen und dem ewigen Leben. Das Erdenleben ist der Weg, das ewige Leben das Ziel. Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt, aber in dieser Welt verläuft der Weg, der uns zu jenem Ziel führt. So wie die Militärschule der Weg ist zum Waffendienst oder das Noviziat den endgültigen Eintritt in einen religiösen Orden vorbereitet, ebenso ist die Erde für uns die Vorstufe zum Himmel.
Jeder Mensch hat eine unsterbliche Seele, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes. Ausgestattet mit einer Reihe natürlicher Fähigkeiten zum Guten, bereichert durch die Taufe mit der Gabe des übernatürlichen Lebens der Gnade, liegt es ihm ob, diese Anlagen zum Guten in ihren vielfältigen Möglichkeiten zu entwickeln. Auf diese Weise wird die Gottähnlichkeit des Menschen, welche zunächst nur unvollständig und potentiell gegeben ist, vollendet und aktuell.
Die Ähnlichkeit ist die Quelle der Liebe. Je mehr wir Gott ähnlich werden, um so mehr sind wir imstande, ihn vollkommen zu lieben und die Fülle der Liebe auf uns herabzuziehen. So werden wir in zunehmendem Masse vorbereitet für die Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht in jenem ewigen Akt der Liebe, der die ewige Glückseligkeit ist, zu der wir berufen sind im Himmel.
Das irdische Leben ist demnach ein Noviziat, in dem wir unsere Seele bereiten für ihr wahrhaftes Ziel, das ist: Gott schauen von Angesicht zu Angesicht und ihn lieben in alle Ewigkeit.
Um dieselbe Wahrheit anders darzulegen, gehen wir davon aus, daß Gott unendlich rein, unendlich stark, unendlich gerecht, mit einem Wort: unendlich gut ist. Um ihn zu lieben, müssen wir die Reinheit, die Stärke, die Gerechtigkeit, alles in allem: das Gute lieben. Wenn wir die Tugend nicht lieben, wie können wir Gott lieben, der das «summum bonum», das höchste Gute ist? Andererseits, wenn Gott das höchste Gute ist, wie könnte er das Böse lieben? Wie könnte er, angesichts der Tatsache, daß die Ähnlichkeit die Quelle der Liebe ist, einen Menschen lieben, der ihm wesentlich unähnlich, nämlich bewusst und willentlich unrein, feige, ungerecht und böse ist?
Da Gott im Geist und in der Wahrheit angebetet werden will (Joh. 4, 24), müssen wir aus innerstem Herzen heraus rein, stark, gerecht und gut sein. Ist aber unsere Seele gut, so sind es notwendiger weise auch unsere Werke; denn der gute Baum kann nur gute Früchte hervorbringen (Mt. 7, 17-18). Wollen wir demnach den Himmel erobern, so müssen wir nicht nur im Innern das Gute lieben und das Böse verabscheuen, sondern auch in unseren Werken das Gute tun und das Böse meiden.
Der oben gebrauchte Vergleich des irdischen Lebens mit einem Weg zur ewigen Seligkeit trifft die Wirklichkeit nicht ganz. Denn das Erdenleben ist mehr als nur Weg. Was werden wir im Himmel tun? Wir werden Gott schauen von Angesicht zu Angesicht, im Licht der Glorie, das ist in der Vollkommenheit der Gnade; und wir werden ihn ganz und ohne Ende lieben. Dieses übernatürliche Leben genießt der Christ aber schon hier auf Erden auf Grund der Taufe. Der Glaube ist bereits das Samenkorn der seligen Anschauung. Und die Liebe zu Gott, die der Christ verwirklicht durch Wachsen im Guten und Vermeiden des Bösen ist schon die eigentliche übernatürliche Liebe, mit der er Gott anbeten wird im Himmel.
Das Reich Gottes tritt erst in der andern Welt völlig in Erscheinung; aber keimhaft existiert es bereits in dieser Welt. Auch der Novize nimmt schon am religiösen Leben teil, wenn auch in vorbereitender Weise, und der Zögling einer Kadettenschule übt hier sein späteres militärisches Leben ein.
Ein Bild, ja noch mehr eine wahre Vorausnahme des Himmels schon in dieser Welt ist die heilige Kirche. So kann alles, was die heiligen Evangelien uns über das Himmelreich mitteilen, auch auf sie bezogen werden, auf den Glauben, den sie uns lehrt und auf jede Tugend, zu der sie uns anleitet.
Hier wird der Sinn des Christkönigsfestes deutlich. Jesus ist vor allem der König des Himmels. In bestimmter Weise übt er seine Herrschaft aber auch schon auf Erden aus. Denn König ist, wer in einer Monarchie die höchste und vollkommenste Autorität rechtmäßig besitzt. Er gibt Gesetze, leitet und richtet. Seine Königswürde kommt am wirksamsten zur Geltung, wenn die Untertanen die Königlichen Rechte anerkennen und seine Gesetze befolgen. Nach christlicher Auffassung stehen Jesus Christus alle Rechte über uns zu. Er hat seine Gesetze verkündet, leitet die Welt und wird die Menschen einst am Jüngsten Tage richten. An uns liegt es, sein Reich wirksam werden zu lassen, indem wir seine Gesetze erfüllen sowie seine Herrschaft und Gerichtsbarkeit über uns anerkennen.
Christi Herrschaft ist zunächst individueller Natur; denn sie verwirklicht sich, wo immer eine treue Seele unserem Herrn Jesus Christus Gehorsam leistet. Sie wird aber eine soziale Wirklichkeit sein, wenn alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft ihm diesen Gehorsam entgegenbringen und ihre Unterwerfung unter seine Gerichtsbarkeit gläubig anerkennen.
Infolgedessen kann das Reich Christi schon hier auf Erden erstehen im individuellen wie im sozialen Sinne. Voraussetzung dafür ist nur, daß die einzelnen Menschen aus dem Innersten ihrer Seele heraus wie auch in allen ihren Handlungen sich gleichförmig machen mit dem Gesetz Christi und daß die Gesellschaft mit ihren Institutionen, Gesetzen und Bräuchen wie auch in ihren kulturellen Veranstaltungen und Darbietungen sich nach dem Gesetz Christi richtet.
Wie konkret, glänzend und deutlich fassbar diese irdische Realität des Reiches Christi auch in Erscheinung treten kann, zum Beispiel im Frankreich König Ludwigs des Heiligen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, so darf man doch nicht vergessen, daß ein solches Reich immer nur Vorbereitung ist. In seiner ganzen Fülle wird das Reich Gottes sich erst im Himmel verwirklichen: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» (Joh. 18, 36).
(aus "Der Kreuzzug des 20. Jahrhunderts" Catolicismo, Januar 1951)

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