19. Jahrhundert: ähnliche Probleme wie in unseren Tagen
Was aber dem großen Publikum weniger bekannt ist, ist die Zusammenhang zwischen diesen beiden großen Ereignissen und den Problemen der Mitte des 19. Jahrhunderts, die bezüglich den Problemen unserer Zeit sehr verschieden und doch sehr, sehr ähnlich sind.
Darüber hinaus handelte es sich um ein Mariendogma. Nun tendiert aber gerade der Liberalismus, eine weitere Plage des 19. Jahrhunderts, naturgemäß zum Interkonfessionalismus, zur Beteuerung all dessen, was den verschiedenen Religionen gemeinsam ist (was im Grunde einem vagen Deismus gleichkommt), und zu einer Geringschätzung oder gar zu einer formellen Ablehnung all dessen, was sie trennt. So war also die Verkündigung des neuen marianischen Dogmas - wie es vor kurzem die Definition der Aufnahme Mariens in den Himmel für einige Kreise gewesen war - für die heimlichen oder erklärten Interkonfessionalisten von 1854 eine ernste, unerwartete Barriere für die Durchführung ihrer Absichten.
Mehr noch, das neue Dogma als solches bedeutete für den wesentlich egalitären Geist der Revolution, der seit 1789 auf despotische Weise das Abendland beherrschte, einen tiefen Schock. Mitanzusehen wie ein einfaches Geschöpf so hoch über alle anderen Kreaturen erhoben wird, Kraft eines unschätzbaren Privilegs, dass ihm im ersten Augenblick seines Daseins gewährt wurde, musste und muss den Kindern der Revolution, die die absolute Gleichheit unter den Menschen als Prinzip aller Ordnung, aller Gerechtigkeit und alles Guten verkündeten, weh tun. Den Nichtkatholiken und den von dem Geist der Revolution 1789 mehr oder weniger angesteckten Katholiken war es eine schmerzliche Erfahrung, hinnehmen zu müssen, dass Gott ein so deutliches Element der Ungleichheit an derart hervorgehobener Stelle in seine Schöpfung eingefügt hat.
Wenn dies auch schon viel bedeutet, so liegt jedoch nicht nur darin das, was wir das Salz des glorreichen Ereignisses der Dogmafestlegung zu nennen wagen. Es ist unmöglich uns der unbefleckten Jungfrau zu erinnern, ohne gleichzeitig an die Schlange zu denken, deren Kopf sie triumphierend und endgültig mit der Ferse zertreten hat. Der Geist der Revolution ist der Geist des Teufels selbst, und für einen gläubigen Menschen wäre es unmöglich, nicht wahrzunehmen, welch entscheidender Anteil dem Teufel in der Erscheinung und Ausbreitung der Irrtümer der Revolution von der religiösen Katastrophe des 16. Jahrhunderts bis zur politischen Katastrophe des 18. Jahrhunderts und allem, was ihr noch folgen sollte, zukommt. So ist der Triumph ihrer größten, unveränderlichen, unnachgiebigen Feindin bestätigt zu sehen, bedeutete für die Mächte der Finsternis die schrecklichste Demütigung. So erklärt sich das Konzert aus menschlichen Stimmen und satanischem Brüllen, das sich in der ganzen Welt wie ein ungeheures, stürmisches Gewitter erhob. Mitanzusehen, wie sich gegen diese Sturm unsagbarer Leidenschaften, drohenden Hasses, rasender Verzweiflung allein die furchtlose, majestätische Gestalt des Stellvertreters Christi, bar jeglicher irdischen Mittel, nur im Vertrauen auf die Hilfe des Himmels erhob, war für die wahren Katholiken eine Quelle des Jubels, der dem glich, den die Apostel verspürten, als sie im Sturm, der sich auf dem See Genesareth erhoben hatte, die göttlich mannhafte Gestalt des Heilands auftauchen sahen, wie er souverän den Winden und den Wassern Einhalt gebot: "Venti et mare oboediunt ei." (Mat. 8, 27).
So wie sich alle Generäle und Gouverneure des Römischen Reiches von den Hunnen besiegen ließen oder die Flucht ergriffen, so waren auch die Unzähligen, die in der weltlichen Gesellschaft die Kirche und die christliche Zivilisation hätten verteidigen sollen, von der Revolution besiegt oder auf der Flucht vor ihr.
Um diesen grundlegenden Punkt zu begreifen, muss man die Rolle der Kirche in der Geschichte und die Rolle der Verehrung der heiligen Jungfrau Maria in der Kirche vor Augen haben.
Für die Kirche wiederum gibt es drei für ihre Blüte wesentliche Bedingungen, die alle anderen weit übertreffen. Ich habe schon oft von ihnen gesprochen, aber man kann nie genug auf ihnen bestehen.
Seit längerem grassierte bereits in katholischen Kreisen in Europa und Amerika eine wahre Lepra, der Jansenismus. Dieser Häresie ging es gerade darum, die Kirche dadurch zu schwächen, dass sie die Andacht zum Allerheiligsten mit dem Anschein eines falschen Respekts untergrub. Sie verunsicherten die Menschen, die sich dem Tisch des Herrn nähern wollten, mit derart strengen Forderungen, dass leider eine sehr große Anzahl von Menschen, die sich durch sie beeinflussen ließen, praktisch nicht mehr die heilige Kommunion empfingen. Auf der andere~ Seite schürte der Jansenismus eine nachhaltige Kampagne gegen die Marienverehrung, da sie angeblich von Christus weg statt zu ihm führte. Schließlich kämpfte diese Häresie auch beständig gegen das Papsttum und besonders gegen die Unfehlbarkeit des Stellvertreters Christi.
Um seine Mutter aber noch mehr zu glorifizieren, hat Unser Herr Jesus Christus noch mehr getan. In Lourdes hat er zur dröhnenden Bestätigung des Dogmas etwas bis dahin nie Gesehenes vollbracht. Er führte sozusagen das ständige, immerwährende Wunder in der Welt ein. Bisher hatte es sporadische Wunder in der Kirche gegeben. In Lourdes aber geschehen die wissenschaftlich beglaubigsten und belegtermaßen übernatürlichen Heilungen seit hundert Jahren in einem wahrhaft ununterbrochenen Strahl vor den Augen einer konfusen, verwirrten Welt.
Von dieser Glaubensglut, die sich an der Festlegung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis entzündet hatte, ging wie ein Feuer ein ungeheurer Drang aus, dem sich die besten, die gelehrtesten, die gebildetsten Söhne der Kirche anschlossen: der Wunsch nach Ausrufung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes. Mehr als alle strebte danach der große Pius IX. Die Definition dieses Dogmas rief auf der Welt eine neue Welle der Papstverehrung hervor, die für die Gottlosen eine weitere Niederlage bedeutete.
„Aber, so könnte man fragen, was hat sich daraus
[aus dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis, das durch die Erscheinung in
Lourdes ratifiziert wurde] für den Kampf der Kirche gegen ihren äußeren
Widersachern ergeben? Könnte man nicht sagen, dass der Feind stärker ist als je
zuvor und dass wir uns jenem Zeitalter nähern, von dem die Aufklärung vor so
vielen Jahrhunderten geträumt hat, dem rohen und integralen wissenschaftlichen
Naturalismus, beherrscht von einer materialistischen Technik; der heftig
egalitären Weltrepublik, von mehr oder weniger philanthropischer und
humanitärer Inspiration, aus deren Umgebung alle Überreste einer
übernatürlichen Religion weggefegt werden? Ist das nicht Kommunismus, ist das
nicht das gefährliche Abgleiten der westlichen Gesellschaft selbst, die
angeblich antikommunistisch ist, aber im Grunde auch auf die Verwirklichung
dieses „Ideals“ zusteuert?
„Ja. Und die Nähe dieser Gefahr ist noch größer, als allgemein angenommen wird. Aber niemand beachtet eine Tatsache von primärer Bedeutung. Es ist, dass die Welt, während sie für die Verwirklichung dieses finsteren Plans modelliert wird, von einem tiefen, immensen, unbeschreiblichen Unbehagen ergriffen wird. Es ist ein Unbehagen, das oft unbewusst, vage und undefiniert ist, selbst wenn es bewusst ist, das aber niemand zu bestreiten wagen würde. Man würde sagen, dass die ganze Menschheit Gewalt erleidet, dass sie in eine Form gebracht wird, die ihrer Natur nicht entspricht, und dass sich alle ihre gesunden Fasern winden und wehren. Es gibt eine immense Sehnsucht nach etwas anderem, von dem wir noch nicht wissen, was es ist. Aber schließlich, eine Tatsache, die vielleicht neu ist, seit der Niedergang der christlichen Zivilisation im fünfzehnten Jahrhundert begann, stöhnt die ganze Welt in Finsternis und Schmerz, genau wie der verlorene Sohn, als er zum Letzten der Schande und des Elends kam, weit weg vom väterlichen Heim. In dem Moment, in dem die Ungerechtigkeit zu triumphieren scheint, gibt es etwas Frustrierendes in ihrem scheinbaren Sieg.
„Nun, dieses gesunde und vielversprechende Unbehagen ist meiner Ansicht nach eine Frucht der Auferstehung der katholischen Faser mit den großen Ereignissen, die ich oben aufgezählt habe, eine Auferstehung, die auf das, was vom Leben und der Vernunft in allen Bereichen der Kultur in der Welt übrig geblieben ist, positiv eingewirkt hat.
Es war sicher ein großer Augenblick im Leben des verlorenen Sohnes, als ein neuer Schimmer von Klarheit seinen vom Laster getrübten Geist erhellte, und sein Wille durch die Betrachtung des Elends, in das er gefallen war, und der Widerlichkeit all der Fehler, die ihn aus dem Vaterhause getrieben hatten, neue Kraft schöpfte. Von der Gnade berührt, stand er nun mit mehr Klarsicht als je zuvor vor der großen Entscheidung. Er konnte bereuen und zurückkehren, oder er konnte im Irrtum verharren und das tragischste Ende seiner Folgen auf sich nehmen. Alles, was ihm eine rechte Erziehung an Gutem eingepflanzt hatte, stand in diesem glücklichen Augenblick wieder wunderbar in ihm auf, während die Tyrannei der schlechten Gewohnheiten sich gleichzeitig vielleicht schrecklicher als je zuvor in ihm aufbäumte. In seinem Innern wurde eine Schlacht geschlagen. Er hat sich für das Gute entschieden. Das Ende der Geschichte kennen wir aus dem Evangelium.
Gott allein kennt die Zukunft. Aber uns Menschen ist es erlaubt nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit unsere Vermutungen über die Zukunft anzustellen.
Sie wird uns zu Hilfe kommen. Dieser Behauptung ist teils richtig und teils falsch. Denn in Wirklichkeit hat sie bereits begonnen, uns zu Hilfe zu kommen. Auf die Definition der Dogmen von der Unbefleckten Empfängnis und der Unfehlbarkeit des Papstes sowie auf die Erneuerung der eucharistischen Frömmigkeit sind in den Pontifikaten, die auf Pius X. folgten, neue marianische Ereignisse gefolgt. Unter Benedikt XV. erschien Maria in Fatima. Genau an dem Tag, an dem Pius XII. zum Bischof geweiht wurde, am 13. Mai 1917, fand die erste Erscheinung statt. Unter Pius XI. verbreitete sich die Botschaft von Fatima sachte und sicher über die ganze Erde. Zum 75. Jahrestag der Erscheinungen von Lourdes ließ der Papst ein ungewöhnlich festliches Jubiläum feiern, zu dem er den damaligen Kardinal Pacelli als seinen Vertreter bei den Feierlichkeiten entsandte. Das Pontifikat Pius XII. hat sich durch die Verkündigung des Dogmas von der Aufnahme Mariens in den Himmel und die Krönung der Gottesmutter zur Königin der Welt verewigt. Bei dieser Gelegenheit krönte Kardinal Masella im Namen des Papstes die Statue der allerseligsten Jungfrau in Fatima.
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