Plinio Corrêa de Oliveira
Die
heilige Therese vom Kinde Jesu gehört sozusagen zu unserer Zeit — in Kürze
feiern wir ihren fünfzigsten Todestag * —, und viele Menschen, die noch unter uns
sind, sind absolut Zeitgenossen der jungen Karmelitin von Lisieux, die im Alter von 24
Jahren verstarb.
Glücklicherweise
wurde die Fotografie schon zu ihrer Zeit erfunden, also haben wir authentische
Porträts der großen „kleinen Heiligen“: einzigartig schön, mit regelmäßigen
Gesichtszügen, leuchtendem und weitem Blick, fester Haltung und entschlossenem
Antlitz, offenbart ihre Physiognomie scheinbare gegensätzliche Eigenschaften — zumindest
für die liberale Mentalität — wie Güte und Festigkeit, Vornehmheit und
Einfachheit, vollkommene und absolute Selbstbeherrschung und eine anziehende Natürlichkeit.
Wenn wir keine Fotos von dieser heiligen Rose des Karmel hätten, welche Vorstellung
würden wir von ihr haben? Jene wie viele ihrer Bilder und Statuen uns
präsentieren: Süß von einer sentimentalen und fast romantischen Süße, gut von
einer rein menschlichen Güte und ohne jeglichen Hauch des Übernatürlichen,
endlich eine junge Frau von guten Neigungen, aber von übertriebener Empfindlichkeit
... niemals eine Heilige, eine authentische und echte Heilige, ein funkelndes
Licht im geistigen Firmament der Kirche des Wahren Gottes. Wenn auch nicht die
gesamte Ikonographie, so doch wenigstens eine bestimmte Ikonographie, hat es
fertiggebracht, nicht die Eigenschaften der Heiligen, doch aber ihre Physiognomie
stark zu verändern. Das gleiche gilt für ihre Biographie. Eine gewisse
sentimentalreligiöse Literatur fand Mittel, ohne die biographischen Daten der
hl. Theresia zu verfälschen, so einseitig und oberflächlich bestimmte Episoden ihres
Lebens zu interpretieren, dass sie ihre Bedeutung irgendwie entstellten. Die
ikonographischen und biographischen Entstellungen waren alle in eine Richtung
gerichtet: die tiefe, bewundernswerte, heroische und unsterbliche Bedeutung des
Lebens der unsterblichen „kleinen Heiligen“ zu verbergen.
Am
fünfzigsten Jahrestag ihres Todes wird jemand, der ihr sehr viel Dank schuldet,
versuchen, mit einem doktrinären Kommentar zu ihrem Leben in ehrerbietiger
Liebe einen Teil dieser Schuld zu begleichen.
* * *
Die
von Adam und Eva begangene Erbsünde und die später von der Menschheit
praktizierten Sünden sind Vergehen gegen Gott. Um diese Vergehen einzulösen und
den göttlichen Zorn zu besänftigen, war es notwendig. dass die Menschheit Sühne
leiste. Diese Sühne war wie ein Preis, der das Fehlverhalten ausgleichen würde.
Es gibt in gewisser Weise eine Wiedergutmachung. Durch die Sünde hat sich der
Mensch unverdienterweise Freuden, Vorteile, Wohlgefühle angeeignet, auf die er
kein Recht hatte. Um die Gerechtigkeit zu sühnen, hätte er notwendigerweise
alles verlassen, vernichten und opfern müssen. Das sühnende Opfer nimmt dann
den Wert eines Lösegeldpreises an, durch den man das begangene Vergehen
wiedergutmacht. Um diese Sünden zu tilgen, hat die Heilige Kirche einen Schatz.
Schauen wir mal von welcher Natur er ist.
Natürlich
ist es kein Schatz materiellen Reichtums. Es ist ein moralischer und
spiritueller Schatz, wie die moralische Natur der Fehler, die es zu lösen gilt,
erfordert. Dieser Schatz besteht in erster Linie aus den unendlich kostbaren
Verdiensten unseres Herrn Jesus Christus, die bei seinem heiligen Erlösertod
von Gott angenommen wurden und die Erlösung der Menschheit bewirkten. Die
Leiden, die Tugenden, die Sühne der sündigen Menschen wären völlig unfähig, den
göttlichen Zorn zu besänftigen. Doch dazu würde das Heilige Opfer des Gottmenschen
alleine genügen. Mehr noch, ein bloßer Tropfen des kostbaren Blutes hätte ausgereicht,
um die ganze Menschheit zu erlösen.
Aber
durch die unergründlichen Bestimmungen der göttlichen Vorsehung war die
Erlösung in der Tat nicht in dem Augenblick wirksam, als das erste Blut des
Erlösers für uns vergossen wurde, sondern nur, als er nach einer Flut von
Qualen für uns am Kreuz verschied. Durch eine ebenso geheimnisvolle Gesinnung
Gottes begnügt er sich nicht mit dem überreichlich genügenden Opfer des
Erlösers. Die Menschheit ist erlöst, und tatsächlich ist das Erlösungswerk
beendet. Aber um die Sünder zu erretten, um für ihre gegenwärtigen Sünden zu
sühnen, damit die verirrten Seelen das Opfer des Gottmenschen nutzen, ist es
notwendig, das auch wir Verdienste haben müssen.
Die
Schatzkammer der Kirche besteht daher aus zwei Parzellen. Eine, unendlich
kostbar, überreich genug, überreichlich wirksam: es sind die Verdienste unseres
Herrn Jesus Christus. Die andere sehr kleine, wertlose, unbedeutende: es sind
die Verdienste von Menschen, die während des ganzen Lebens der Kirche erworben werden.
Der kleine Teil ist nur etwas Wert in Verbindung mit dem unendlichen Teil. Aber
— Geheimnis Gottes — an sich vollkommen verzichtbar, ist dieser Teil
unentbehrlich, weil Gott es so wollte: „Wer dich ohne dich erschaffen hat, wird
dich nicht ohne dich erretten“, sagt der heilige Augustinus. Gott hat uns ohne
unsere Mitarbeit geschaffen, aber um uns zu erlösen, will er unsere Mitarbeit.
Mitwirkung durch das Apostolat, ja, aber auch Mitwirkung durch Gebet und Opfer.
Ohne die Verdienste der Menschen wird die Schatzkammer der Kirche nicht
vollständig sein, und die Menschheit wird nicht vollständig von den Früchten
der Erlösung profitieren.
* * *
Aus
einem anderen Blickwinkel müssen wir die Rolle der Gnade für die Erlösung
betrachten. Kein Mensch ist zu einem geringsten Akt der christlichen Tugend in
der Lage, ohne dass er durch die Gnade Gottes dazu berufen wäre und ohne die Hilfe
der Gnade Gottes sie zu üben. Mit anderen Worten, die erste Idee, der erste
Impuls, die ganze Verwirklichung des übernatürlichen Tugendaktes geschieht nur mit
Hilfe der Gnade. Und zwar so, dass niemand die geringste christliche Tugend
üben könnte — und nicht einmal die heiligen Namen Jesus und Maria mit Andacht
aussprechen könnte — ohne die übernatürliche Hilfe der Gnade. All dies ist
Glaubenswahrheit, und es zu leugnen, wäre Häresie. Unser Wille wirkt mit der
Gnade zusammen, und ohne das Zusammentreffen unseres Willens gibt es keine
mögliche Tugend. Aber nur von sich aus ohne die Gnade ist der Wille absolut
nicht in der Lage, übernatürliche Tugend zu üben.
Nun,
da ohne Tugend niemand Gott gefallen und gerettet werden kann, ist es leicht zu
erkennen, dass die für die Tugend notwendige Gnade für die Erlösung notwendig
ist.
Alle
Menschen erhalten genug Gnade, um gerettet zu werden. Auch das ist eine Glaubenswahrheit.
Aber in der Tat, durch die menschliche Boshaftigkeit, die unermesslich ist,
wären nur wenige Menschen, in der Lage, mit der genügenden Gnade gerettet zu werden.
Es ist notwendig, dass die Gnade im Überfluss vorhanden sei, um die Bosheit des
menschlichen freien Willens zu überwinden. Die Fülle dieser Gnade, wie kann man
sie von Gott erhalten, der erzürnt ist durch die Sünden der Menschen? Offensichtlich aus dem Schatz der Kirche.
Aber
wie wir gesehen haben, besteht dieser Schatz aus zwei Teilen, von denen einer
vollkommen und unveränderlich ist — der von Gott — und ein anderer, der
veränderlich und unvollkommen ist, der von den Menschen. Je mehr der menschliche
Teil des Kirchenschatzes mangelhaft ist, desto unzureichender werden die Gnaden
sein. Je seltener die Gnaden sind, desto weniger werden die Seelen gerettet
werden. Daraus folgt, dass für die Rettung der Seelen, der Schatz der Kirche immer
aufgefüllt wird von Verdiensten, die von den Menschen gewonnen werden. Die großen
Sünder sind kranke Kinder, für deren Heilung aus den Schätzen der Kirche
geschöpft wird. Die großen Heiligen sind die gesunden und tätigen Kinder, die
in jedem Moment neue Reichtümer in den Schatz der Kirche einbringen, die
diejenigen ersetzen, die für die Sünder benutzt werden.
All
dies erlaubt uns, eine Korrelation herzustellen: für große Sünder, große
Ausgaben aus der Schatzkammer der Kirche. Entweder werden diese großen Ausgaben
durch neue Mittel der Großzügigkeit Gottes und der heiligen Seelen geliefert,
oder die Gnaden werden weniger reichlich, und die Zahl der Sünder nimmt zu.
Daraus
folgt, dass für die Erweiterung der Kirche nichts notwendiger ist, als immer
und immer wieder ihren übernatürlichen Schatz mit neuen Verdiensten zu
bereichern.
* * *
Natürlich
kann man Verdienste erwerben, indem man überall die Tugend praktiziert. Aber es
gibt im Garten der Kirche Seelen, die Gott besonders zu diesem Zweck bestimmt. Es
sind diejenigen, die Er zum kontemplativen Leben beruft, in Klöstern mit
strenger Klausur, wo bestimmte auserlesene Seelen sich besonders hingeben, Gott
zu lieben und für die Menschen zu sühnen. Diese Seelen bitten Gott mutig, ihnen
alle Prüfungen zu senden, die Er möchte, solange viele Sünder dadurch gerettet
werden. Gott geißelt sie ständig auf die eine oder andere Weise, erntet von
ihnen die Blume des Mitleids und des Leidens, um mit diesen Verdiensten neue
Seelen zu retten. Nichts ist
bewundernswerter als sich der Berufung eines Sühneopfers für Sünder zu weihen.
Das ist umso mehr der Fall, weil es viele gibt, die arbeiten, viele, die beten:
Aber wer hat den Mut für andere zu büßen?
Das
ist die tiefste Bedeutung der Berufung der Trapisten, der Franziskaner, der Dominikaner
und der Karmeliter, unter denen die sanfte und heldenhafte Kleine Therese
blühte.
Ihre
Methode war eine ganz besondere. Indem sie die volle Übereinstimmung mit dem
Willen Gottes praktizierte, bat sie nicht um Leiden, noch lehnte sie sie ab.
Gott solle aus ihr machen, was Er wolle. Nie hat sie Gott oder ihre Oberinnen
gebeten, Schmerzen von ihr abzuwenden. Nie hat sie Gott oder ihre Vorgesetzten
um Kasteiungen gebeten. Ihr Weg war die vollständige Unterwerfung. Und in
Angelegenheiten des geistlichen Lebens bedeutet vollständige Unterwerfung vollständige
Heiligung.
Ihre Methode kennzeichnet sich noch durch eine
weitere wichtige Note. Die heilige Therese vom Kinde Jesu übte keine großen
physischen Abtötungen aus. Sie beschränkte sich einfach auf die Vorschriften ihrer
Ordensregel. Aber sie bemühte sich um eine andere Art der Abtötung: jeder Zeit jeden
Moment tausend kleine Opfer zu bringen. Niemals den eigenen Wille zu tun.
Niemals das Angenehme, das Köstliche. Immer das Gegenteil von dem, was die
Sinne verlangten. Und jedes dieser kleinen Opfer war eine kleine Münze in der
Schatzkammer der Kirche. Kleine Münze, ja, aber aus Edelgold: Der Wert jeder
kleinen Tat bestand aus der Liebe Gottes, mit der sie vollführt wurde.
Und was für eine verdienstvolle Liebe! Die heilige
Theresa vom Kinde Jesu hatte keine Visionen, nicht einmal die gefühlten und
natürlichen Regungen, die die Frömmigkeit zuweilen so angenehm machen. Absolute
innere Trockenheit, dürre Liebe, aber bewundernswert inbrünstig, des vom
Glauben geleiteten Willens, fest und heldenhaft an Gott gebunden, in der
unfreiwilligen und unabänderlichen Atonie der Gefühle. Trockene und wirksame Liebe,
ist im geistlichen Leben gleichbedeutend mit vollkommener Liebe...
Erhabener
Weg, einfacher Weg. Ist es nicht einfach, kleine Opfer zu bringen? Ist es nicht
einfacher, keine Visionen zu haben, als sie zu haben? Ist es nicht einfacher,
die Opfer zu akzeptieren, anstatt nach ihnen zu fragen?
Einfacher
Weg, Weg für alle. Die Mission der Kleinen Theresa war, uns einen Weg zu
zeigen, auf dem wir alle gehen können. Möge sie uns helfen, diesen königlichen
Weg zu gehen, der zu den Altären führt, nicht nur der einen oder anderen Seele,
sondern ganzer Legionen.
*) Die hl. Therese starb am 1. Oktober 1897
Vom Verfasser nicht revidierte freie Übersetzung aus dem portugiesischen
Original in „O Legionário“ Nr. 790, 28.9.1947.
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