Donnerstag, 31. Juli 2025

Mäßigung, die große Übertreibung unseres Jahrhunderts

 Plinio Corrêa de Oliveira


Die Festung des Glaubens: eine Miniatur aus dem 15. Jahrhundert. Die Kirche, vertreten durch ihre Hierarchie, verteidigt die Festung des Glaubens gegen den Angriff von Ketzern und Heiden. Dieses filigrane mittelalterliche Kunstwerk drückt den ständigen Kampf zwischen dem Gottesstaat und dem Teufelsstaat, zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis aus. Heutige „Moderantisten“ (Gemäßigten) abstrahieren von diesem militanten Aspekt des kirchlichen Lebens und konzipieren die Beziehungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen – unter dem Vorwand von Ausgewogenheit, Äquidistanz und Nächstenliebe – im „toleranten“ Stil der rotarischen Mentalität.

* * *

Fassen wir unseren vorherigen Artikel in zwei Worten zusammen:

Übertreibung ist ein Fehler, der jede Tugend verderben kann. Vaterlandsliebe zum Beispiel ist eine Eigenschaft, aber Staatsverehrung ist ein Fehler. Gerechtigkeit ist ebenfalls eine Eigenschaft, aber Übertreibung kann sie in Härte, ja sogar Grausamkeit verwandeln. Unnachgiebigkeit ist eine Tugend, aber im Übermaß kann sie zu Sektierertum führen. Und so weiter.

Mäßigung ist auch eine Eigenschaft. Daher kann sie durch Übertreibung verzerrt werden. „Mäßig gemäßigt“ zu sein ist gut. Übertrieben gemäßigt zu sein ist schlecht. „Corruptio optimi pessima.“ Mäßigung ist eine hohe, eine sehr hohe Tugend. Gerade deshalb sind ihre Verzerrungen sehr gefährlich. Grundsätzlich ist es daher sehr wichtig, die Exzesse der Mäßigung zu verstehen, um sie zu verhindern oder zu beheben.

Zu diesem doktrinären Grund, der zu allen Zeiten und an allen Orten gültig ist, kommt – um eine Untersuchung des Themas zu Beginn dieses Jahres zu empfehlen – ein äußerst gewichtiger, umständlicher Grund hinzu. Der Mensch unserer Zeit ist im Wesentlichen übertrieben. Jahrzehntelang wehte ihm der Wind der extremsten politischen und sozialen Propaganda entgegen. Er entwickelte eine Vorliebe für Exzesse. Nach dem Krieg wurden in verschiedenen Bereichen sehr rechtzeitig Anstrengungen unternommen, ihm etwas Mäßigung beizubringen. Dann trat ein merkwürdiges, aber erklärbares Phänomen auf: Der moderne Mensch, der der Übertreibung verfallen war, begann, die Mäßigung zu übertreiben. Daher rührt zumindest teilweise die Popularität vieler Haltungen und Denkweisen vom Anfang dieses Jahrhunderts, die vor zehn oder fünfzehn Jahren noch als offenkundig liberal gegolten hätten.

Nichts könnte die Sache einer heiligen und gesunden Mäßigung stärker gefährden als eine solche Abweichung. Diese Abweichung in ihren unzähligen Erscheinungsformen aufzuzeigen, zu analysieren und offenzulegen, ist daher ein nützlicher und dringender Dienst im Kampf gegen Übertreibungen.

Es gibt drei Prinzipien, nach denen der Hypermoderantismus zum Exzess führt. Tolerant, kompromissbereit, vielleicht in allem nachlässig, fürchtet er Exzess auf allen Gebieten. Doch in diesen drei Prinzipien ist er so kompromisslos wie ein legendärer Inquisitor, so fanatisch wie ein Mohammedaner, so akribisch wie ein Pharisäer. Dies sind drei hervorragende Prinzipien:

1) Die Regel des heiligen Augustinus: „Hasse den Irrtum und liebe die Irrenden“;

2) „Die Tugend liegt in der Mitte“;

3) Die Maxime des Heiligen Franz von Sales: „Ein Löffel Honig zieht mehr Fliegen an als ein Fass Essig.“

Daraus ergibt sich eine ganze Reihe einseitiger Positionen, die zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Liberalismus führen.

Charakteristisch für den Hypermoderantismus ist, dass er praktisch zu einer Position der „dritten Kraft“ zwischen Wahrheit und Irrtum, Gut und Böse führt. Wenn an einem Extrem der Staat Gottes steht, dessen Kinder Güte und Wahrheit in jeder Hinsicht zu verbreiten suchen, und am anderen Extrem der Staat des Teufels, dessen Soldaten Irrtum und Böses in jeder Form zu verbreiten suchen, ist klar, dass der Kampf zwischen diesen beiden Städten unvermeidlich ist. Denn zwei Kräfte, die auf demselben Gebiet in entgegengesetzte Richtungen wirken, müssen sich zwangsläufig bekämpfen. Daher kann es keine Verbreitung von Wahrheit und Güte geben, die nicht einen Kampf gegen Irrtum und Böses und sogar gegen die Urheber von Irrtum und Bösem beinhaltet. Umgekehrt kann es keine Verbreitung von Irrtum und Bösem geben, die nicht einen Kampf gegen die Wahrheit, gegen das Gute, gegen diejenigen, die die Wahrheit verbreiten, gegen diejenigen, die für das Gute arbeiten, mit sich bringt. Genau das übersehen Hypermoderantisten, wenn sie die erste Maxime übertreiben. Sie bilden sich ein, sie könnten den Sieg erringen, indem sie Ideen, und nur Ideen, angreifen. Als wären Ideen konkrete Gebilde, die angreifbar und besiegbar sind. Ideen existieren in den Köpfen derer, die sie vertreten. Sie zu besiegen bedeutet, ihre Anhänger zu bekehren oder, wenn sie stur sind, sie aufzuzeigen, zu entlarven und ihnen jeglichen Einfluss zu nehmen.

Doch der übertriebene „Moderantist“ sieht nichts davon. Entschlossen, die Ideen nur theoretisch anzugreifen, zieht er gegen zwei Gegner in den Krieg:

a) die Ideen der Antikatholiken;

b) die Katholiken, die den Kampf in den Bereich konkreter Fakten tragen.

Zwischen beiden agiert er als echte „dritte Kraft“.

Natürlich wendet der „Moderantist“ (der Gemäßigte) der „dritten Kraft“ seine Prinzipien auch auf den Kampf zwischen dem Heiligen Stuhl gefügigen Katholiken und jenen an, die sich zu den Irrtümern bekennen, die der glorreich regierende Heilige Vater in den Enzykliken „Mystici Corporis“ und „Mediator Dei“, in der Konstitution „Bis Saeculari“ und in der Enzyklika „Humani Generis“ verurteilt hat. Er will nur Lehren angreifen. Immer wenn es darum geht, jemandem einen Fehler zuzusprechen, immer wenn es darum geht, jemanden aus einer Position oder Situation zu entfernen, in der sein Einfluss gefährlich sein könnte, widerspricht der Moderantist. Dies wäre ein Mangel an Nächstenliebe, da es den Kampf vom Bereich der Ideen in den Bereich der Menschen verlagert. Im Großen und Ganzen ist dies der Katholik der „dritten Kraft“. Aber er hat eine sehr merkwürdige Eigenschaft. Er wendet die weise Maxime des heiligen Augustinus nur in eine Richtung an. Im Umgang mit denen, die verschleierte oder offenkundig falsche Lehren vertreten, ist der Katholik der „dritten Kraft“ ein „Moderantist“. Doch wenn er denen gegenübersteht, die für absolute Reinheit der Lehre kämpfen, greift er … auch und sogar in erster Linie Menschen an.

Wir möchten unseren Lesern ein interessantes Beispiel zur Analyse präsentieren. Achten Sie auf die Opposition der „dritten Kraft“ zum „CATOLICISMO“ (diese Zeitschrift). Vergleichen Sie die Haltung der Soldaten der „dritten Kraft“ uns gegenüber mit ihrer Haltung gegenüber denen, die unseren Ideen widersprechen. Der bloßen Erläuterung halber und ohne dem Ausdruck eine besondere Bedeutung beimessen zu wollen, nennen wir sie die Linke und uns die Rechte. In der Mitte stünde die „dritte Kraft“. Sehen wir sie an:

1) – Schriften der „Linken“ stellen keine große Gefahr dar, solange sie nicht offen Irrtümer vertreten. Daher sollten sie mit Vorsicht betrachtet werden. Im Gegenteil, Schriften der „Rechten“ sind äußerst gefährlich. Sie verbreiten, zumindest implizit, eine Atmosphäre der Streitlust und Unnachgiebigkeit, die der Nächstenliebe schadet. Deshalb müssen sie eingehend und mit größter Aufmerksamkeit analysiert und rigoros boykottiert werden, sobald sie auch nur den geringsten Diskussionsstoff anregen.

2) – Schriftsteller der „Linken“ können, selbst wenn sie den einen oder anderen formalen Fehler begehen, hervorragende Menschen sein, die aller Anerkennung würdig sind, und ihre Mitarbeit im apostolischen Werk kann und sollte voll genutzt werden. Schriftsteller der „Rechten“ hingegen sind gefährliche Menschen, deren Einfluss stets der Nächstenliebe schadet und die von jeglicher apostolischen Tätigkeit ferngehalten werden müssen.

3) Es wäre lieblos, durch persönliches Handeln – in Gesprächen mit Freunden und Verwandten, mit Vereinsmitgliedern usw. – eine Atmosphäre des Misstrauens gegenüber Elementen der „Linken“ zu schaffen. Doch es ist ein Werk des öffentlichen Heils, alle gebotene Sorgfalt darauf zu verwenden, eine solche Atmosphäre gegenüber den „Rechten“ zu schaffen.

4) Es ist möglich, dass in diesem oder jenem konkreten Fall die Handlungen einiger „linker“ Enthusiasten weniger loyal oder weniger wohltätig waren. Ihnen sollte vergeben werden, denn Leidenschaft hat große Macht über die arme, gefallene Menschheit. Es wäre vorschnelles Urteil oder gar Verleumdung, die Absichten solcher Personen zu verdächtigen. Es ist jedoch klar, dass die „Rechten“ immer gegen die Nächstenliebe sündigen, dass der elementarste Sinn für Gerechtigkeit verlangt, dass ihre Anhänger mit äußerster Härte bestraft und ihre verderblichen Aktivitäten mit Gewalt gestoppt werden. Was ihre Absichten betrifft, so grenzt man, wenn man sie mit allzu viel Wohlwollen betrachtet, an ernstes Misstrauen.

Was ist das Ergebnis dieses gewaltigen und heftigen Widerspruchs? Es könnte nicht klarer sein. Die Täter des Bösen sind von jeder Rücksichtnahme, jeder Sympathie umgeben und in jeder Schlüsselposition für die Verbreitung von Irrtümern positioniert. Im Gegenteil, die Verteidiger der Wahrheit sind isoliert, unbeliebt und von jeder strategischen Position entfernt.

Mit anderen Worten: Die gesamte Einflusskraft der dritten Kraft trägt zum Sieg der Ideen bei, die sie – zumindest auf den Mond – verurteilt.

EINE FIXE IDEE: DER GLEICHABSTAND (Equidistanz)

Aber, könnte jemand sagen, liegt Tugend nicht in der Mitte? Wenn die Rechte ein Extrem ist, die Linke ein anderes, muss Tugend dann nicht genau auf halber Distanz zwischen der einen und der anderen liegen? Wir sollten zunächst fragen, ob die Position der „dritten Kraft“, der „übertriebenen Gemäßigten“, wirklich in der Mitte liegt. Denn wenn man allen Zorn auf eine Seite und all die Nachsicht auf die andere richtet, ist es sehr schwer zu behaupten, dass man das Herz in gleicher Distanz von der einen wie von der anderen Seite entfernt hat. Darüber hinaus wäre nichts falscher, als sich vorzustellen, dass die Tugend bei zwei gegensätzlichen Meinungen immer irgendwo in der Mitte liegt. Wenn also in einem Kreis jemand die Enthauptung als Strafe für Mord befürwortet und ein anderer die einfache Gefängnisstrafe, sollte daraus nicht gefolgert werden, dass die Wahrheit nicht darin besteht, dem Mörder den Hals durchzuschneiden oder ihn gar nicht erst zu schneiden, sondern ihm die Beine abzuschneiden. Ebenso läge die Wahrheit in einer Gruppe, in der ein Katholik behauptet, die kirchliche Hierarchie bestehe aus Papst, Bischöfen und Gemeindepfarrern, ein Presbyterianer aber Papst und Bischöfe leugnet und nur Gemeindepfarrer zulässt, irgendwo in der Mitte, nämlich im Anglikanismus, der Bischöfe, aber nicht den Papst zulässt. Wenn ein Dieb behauptet, Anspruch auf das gesamte Geld in der Brieftasche seines Opfers zu haben, und das Opfer behauptet, der Dieb habe kein Recht darauf, läge die Tugend darin, den Mittelweg einzuschlagen und dem Dieb die Hälfte des Geldes zu geben. Und zwischen einem Katholiken, der die Existenz der drei Personen der Heiligsten Dreifaltigkeit bejaht, und einem Ketzer, der nur eine Person in Gott anerkennt, läge die Wahrheit darin, den Mittelweg einzuschlagen und die Existenz zweier Personen in Gott zu akzeptieren.

Im eigentlichen Sinne der Maxime ist es wahr, dass Wahrheit und Tugend irgendwo in der Mitte liegen. Aber nicht in irgendeinem Mittelweg, denn das wäre absurd. Die „Mitte“ der Maxime bezeichnet eine Position vollkommener Ausgewogenheit, von der aus alle theoretisch möglichen Übertreibungen und alle erdenklichen Irrtümer ausgeschlossen sind und in der es nur die Wahrheit und das Gute gibt.

DER MITTELWEG LIEGT IN DER TUGEND

Schauen wir uns einige Beispiele an. Ein Student, der ein- oder mehrmals in der ersten Prüfung durchfällt, ist sicherlich ein schlechter Student. Ein anderer, der alle Fächer mit einer 3 besteht, ist ein durchschnittlicher Student. Wieder ein anderer, der im gesamten Studium nur Auszeichnungen erhält und alle Preise gewinnt, ist ein exzellenter Student. Welcher der drei befindet sich im idealen Mittelweg? Liegt die Tugend in der Mitte, liegt sie bei den Tugendhaftesten. Der Tugendhafteste ist nun nicht derjenige, der in allen Prüfungen eine 3 bekommt, sondern derjenige, der eine 1 bekommt... Dies führt uns zu einer Formulierung, die die berühmte Maxime, dass Tugend in der Mitte liegt, besser verständlich macht. Wollen wir wissen, wo der Mittelweg liegt? Er liegt in der Tugend. Daher, je weiter man in der Tugend schreitet, hin zu den Höhen der Heiligkeit, desto mehr befindet man sich in der Mitte. Eine „Mitte“ natürlich, die etwas ganz anderes als Mittelmäßigkeit und langweiliger Äquidistanz zwischen Gut und Böse. In Sachen Reinheit besteht die „Mitte“ darin, den hl. Aloysius von Gonzaga nachzuahmen, der vor aller Weltlichkeit und allem floh, was auch nur den geringsten Schatten des Bösen hatte. In Sachen Orthodoxie besteht die Mitte bei der Nachahmung des hl. Thomas, des hl. Ignatius von Loyola und des heiligen Inquisitors Pius V. In Sachen Gebet bedeutet es, der heiligen Teresa von Jesus oder der hl. Therese vom Kinde Jesus zu folgen. In Sachen Kampfgeist besteht es darin, den hl. Bernhard, den Heiligen der Kreuzzüge, oder die hl. Johanna von Orléans nachzuahmen. Wenn der Himmel an einem Extrem und die Hölle am anderen liegt, dann ist die „Mitte“, in der die Tugend zu finden ist, nicht derselbe Abstand zwischen dem Thron Gottes und der Bank Satans, in jener Zone der Verworfenen, die Dante am Eingang zur Hölle sah, gleichermaßen von Engeln und Dämonen abgelehnt – das heißt, die Lauen, die Mittelmäßigen, die Gleichgültigen, die „senza infamia e senza lodo“ (Inf. III, 21 ff.) durchs Leben gegangen sind. Die Mitte befindet sich an einem der Extreme, nämlich im Himmel.

Wenn wir wissen wollen, wo die Mitte ist, haben wir nur einen Weg: die Kirche zu fragen, wo die Tugend ist.

HONIG UND ESSIG

Aber, könnte jemand anderes schließlich sagen, ist es nicht wahr, dass mit einem Löffel Honig man mehr Fliegen anzieht als mit einem Fass Essig? Lassen wir die dritte Kraft und ihre beklagenswerten Widersprüche beiseite. Wäre es für die „Rechten“ nicht besser, endgültig auf polemische Methoden zu verzichten und die „Gegenseite“ mit Zuneigung zu überzeugen?

Zuneigung ist im Prinzip das, was Menschen am meisten anzieht. Dürfen wir daraus folgern, dass dies die einzige dem Apostel angemessene Haltung ist? Hätte die hl. Johanna von Orléans versucht, die Engländer mit Zärtlichkeiten zu vertreiben, wäre sie erfolgreich gewesen? Hätte der hl. Bernhard nicht besser gehandelt, wenn er die Kreuzzüge nicht predigte, sondern einen „Tag des guten Willens“ gegenüber den Muslimen in der Christenheit organisierte? Hätte der hl. Pius V. nicht christlicher und wirksamer gehandelt, wenn er statt der Schiffe von Johann von Österreich einen Experten für pazifistisches Lächeln nach Lepanto geschickt hätte?

Aus so vielen Beispielen wird deutlich, dass ein Heiliger, der, wann immer möglich, überzeugende Mittel bevorzugt, gezwungen sein kann, zu sehr strengen Verfahren zu greifen. Und dies aus zwei Hauptgründen. Erstens geht es beim Apostolat nicht immer um Bekehrung. Sobald sich eine Bekehrung aufgrund der Hartnäckigkeit des Sünders als unmöglich erweist, muss man ihm die Möglichkeit nehmen, andere Seelen zu verlieren. Und dies gelingt selten allein durch überzeugende Mittel.

Andererseits wird Bekehrung selbst nicht immer durch sanfte Worte erreicht. Die Geschichte ist voll von Beispielen von Seelen, die nur durch harte Worte, schreckliche Anschuldigungen und gewaltige Drohungen berührt wurden. Man denke nur an den Fall Davids.

Wenn es also stimmt, dass Sanftmut mehr Seelen anzieht als Strenge, so stimmt es auch, dass es Seelen gibt, die nur durch Strenge bekehrt werden können, und innere Situationen, Krisenzustände, die nur durch Strenge gelöst werden können.

Damit ist ein wesentliches Prinzip festgelegt, das zu vergessen oder zu unterschätzen ein schwerer Fehler wäre. Eine apostolische Technik, die ausschließlich auf Sanftmut beruht, ist ebenso fehlerhaft wie eine, die ausschließlich auf Strenge beruht.

STRENGE ODER MILDE?

Wie sollten wir also handeln? In welchem Ausmaß sollten wir jedes dieser unverzichtbaren Elemente apostolischen Handelns einsetzen? Wie viel Salz? Wie viel Zucker? Auf den ersten Blick scheint das Problem unlösbar; in Wirklichkeit ist es leicht zu lösen.

Unterscheiden Sie sorgfältig zwischen tugendhafter Sanftmut und lasterhafter Sanftmut. Und dasselbe gilt für Strenge.

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, sagt unser Herr. Dies lässt sich sowohl von Menschen als auch von apostolischen Taktiken sagen.

Wenn die Sanftmut des Apostels so beschaffen ist, dass sie in den Seelen Geschmack für Glauben, Reinheit, ein Leben in Selbstkasteiung, Loslösung von irdischen Gütern, grenzenloses Vertrauen in die Kirche Gottes und einen unerbittlichen Hass auf die Sünde entfacht: Wenn Sanftmut – kurz gesagt – bekehrt und heiligt, ist sie gerecht, tugendhaft und heilig. Doch wenn die Sanftmut des Apostels den Sünder noch tiefer in seine Sünde verstrickt, ihm eine anmaßende Hoffnung auf Erlösung einflößt, sein Gefühl für die Schwere seiner Schuld mindert, ihn dazu bringt, Gottes Zorn mit Gleichgültigkeit zu betrachten, ihn dazu bringt, tugendhafte Menschen zu hassen, sich seiner sinnlichen und weltlichen Maximen zu rühmen und die Gebote des Glaubens und die Lehren der Kirche zu verspotten, dann kommt diese Sanftmut vom Teufel.

Wenn Strenge turbulent, ruhelos und widersprüchlich ist, manchmal eine Kleinigkeit anklagt, manchmal eine schwerwiegende Tatsache übersieht; wenn sie eher zur Verteidigung der tatsächlichen oder vermeintlichen Rechte des Strengen als zur Verteidigung der Rechte Gottes und der Kirche ausgeübt wird; wenn sie nicht durch aufrichtige Reue besänftigt wird; wenn sie eher versucht, ihrem Ärger Luft zu machen als zu erbauen; wenn sie die Zwänge des Gehorsams nicht bereitwillig und demütig akzeptiert; wenn sie nicht darauf angelegt ist, Bewunderung oder Anziehung für die Tugend zu wecken; Wenn sie Angst einflößt, die entmutigt und nicht zur Bekehrung führt, kommt sie nicht von Gott. Aber wenn sie völlig vernünftig ist, selbst in ihren radikalsten Aussagen; wenn sie ausschließlich auf Prinzipien und nicht auf momentanem Zorn beruht; wenn sie die Rechte und Lehren der Kirche verteidigt und alles „sub specie aeternitatis“ sieht, anstatt sich von Phobien oder persönlichen Sympathien leiten zu lassen; wenn sie Gehorsam akzeptiert, Tugend fördert, Seelen von der Sünde abbringt und sie zu Gott führt, dann ist sie ein Geschenk des Himmels.

HEILIGKEIT IST DAS WESENTLICHE

Das Wesentliche ist jedoch nicht, ob jemand sanft oder streng ist, sondern ob er heilig sanft oder heilig streng ist.

Strenge und Sanftmut hängen weitgehend von der Veranlagung der Seele ab, und „im Hause des himmlischen Vaters gibt es viele Wohnungen“. Die Schrift sagt: „Der Geist weht, wo er will“, und Gott gibt jedem Menschen seine Gaben, wie er es für richtig hält. Manchen schenkt er die Gabe, vor allem durch Sanftmut anzuziehen, wie dem hl. Franz von Sales. Anderen schenkt er die Gabe, ihn durch die Kraft einer feurigen und unnachgiebigen Polemik anzuziehen, wie dem hl. Hieronymus. Lasst uns nicht Heilige gegen Heilige, Altar gegen Altar, Tugend gegen Tugend aufhetzen. Lasst uns stattdessen verstehen, dass dort, wo Heiligkeit ist, Gott ist, die Quelle allen Guten. Lasst uns strenger als sanftmütig sein oder sanftmütiger als streng: Das Wesentliche ist, dass wir heilig sind. Denn was erwünscht ist, ist Heiligkeit, das heißt die vollkommene Einhaltung der katholischen Lehre, die vollkommene Ausübung der Gebote.

In jedem Fall handeln wir gemäßigt, wenn wir heilig handeln, selbst wenn wir ins Extreme gehen.

Wir wiederholen: Tugend liegt in der Mitte; und diese berühmte Mitte liegt in der Tugend.

Und wenn sie nicht in der Tugend wäre, wo könnte sie anders sein als in der Hölle?




Aus dem portugiesischen von Moderação, o grande exagero de nosso século“  in Catolicismo von März 1954

Die deutsche Fassung dieses Artikels „Mäßigung, die große Übertreibung unseres Jahrhunderts“ ist erstmals erschienen in www.p-c-o.blogspot.com

© Veröffentlichung dieser deutschen Fassung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

 


Mittwoch, 30. Juli 2025

Mäßigung! Mäßigung!: Der Slogan, der durch den Westen hallt

 Man soll mäßig in allem sein, selbst in der Mäßigung

Plinio Corrêa de Oliveira

Mit bewundernswerter Einsicht stellte der glorreich regierende Heilige Vater Pius XII. den seligen Pius X. den Gläubigen unseres Jahrhunderts als Vorbild in der Ausübung der Kardinaltugenden vor, die in der Praxis manchmal so schwer zu harmonisieren sind. Mit einem sehr gütigen Herzen neigte Pius X. von Natur aus zur Güte. Er verstand es jedoch hervorragend, die Tugend der Tapferkeit zu praktizieren. So gab er uns das Beispiel eines maßvollen Lebens in allen Dingen, einschließlich der intelligenten und starken Ausübung der Tugend der Mäßigung.


Die Gemütsverfassungen variieren in den Völkern wie im einzelnen Menschen. Es gibt Zeiten, in denen die öffentliche Meinung einer Nation nur von extremen Meinungen, von krachenden Behauptungen oder Verneinungen, den großen Kontroversen, den Rednern mit überragender Beredsamkeit und den Männern, die zu großen Taten fähig, begeistert sind. Ein französisches Sprichwort sagt: „tout passe, tout casse, tout lasse ... et tout se remplace“(*). Diese Liebe für das Grandiose neigt leicht zur Übertreibung. Vom authentischen Heldentum übergeht man leicht zum Melodram, und da niemand in einer gesättigten Atmosphäre von Blitzen und Wetterleuchten, dröhnenden Donnern, dem Aufprall aller Winde, hoch oben auf hohen Gipfeln überleben kann, schwindet die Energie und eine dumpfe Nostalgie des Alltags, mit seiner Sorglosigkeit, mit seiner Milde, mit den vegetativen Vergnügungen, die es bietet, die Herzen schwächt. Die Helden und die Heldentaten kommen aus der Mode. Der Geist, gesättigt und der Ideale überdrüssig, verlagert seine Vorlieben allmählich zu einem anderen Pol, hin zu den Formen der Tugend, die die Ruhe des Lebens gewährleisten. Es ist das Zeitalter der Gemäßigten, das heßt der Journalisten, die die nächste Lösung aller Probleme vorhersagen, der lächelnden Denker, die die Auseinandersetzungen mit Geschick dämpfen, indem sie geschickte „Mittelwege“ unter den extremen Meinungen finden, der Künstler, die Stile und Formen der Schönheit präsentieren, die zu einem friedlichen und lächelnden Leben passen, usw. Nach einer gewissen Zeit erholen sich die Gemüter wieder, die Energie kehrt zurück. Der Alltag beginnt lästig zu werden. Die Luft scheint still und stickig in der Schläfrigkeit der täglichen Routine. Der Appetit zum Großartigen komm zurück. Und der Kreislauf beginnt von neuem.

 *) Alles vergeht, alles zerbricht, alles wird langweilig ... und alles wird ersetzt. 

Wie lange dauert jeder dieser Zyklen? Das ist höchst variabel. Manchmal folgen diese Zyklen im Leben einer gleichen Generation schnell aufeinander. In anderes Mal ist ihre Langsamkeit so groß, dass er sich träge durch die Generationen schleppt.

Tatsache ist jedoch, dass dieses Phänomen existiert und das gesamte politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben zutiefst prägt. Der Untergang von Byzanz lag hauptsächlich daran, dass sich die Gemüter in der „gemäßigten“ und vegetativen Phase befanden, während die Ereignisse Heldentum erforderten. Napoleons Sturz wurde maßgeblich dadurch begünstigt, dass das Klima einer fast melodramatischen Größe des Imperiums alle Franzosen, von Ney bis zum letzten der kleinen Bourgeois, satt hatten. Wenn Deutschland 1940 so problemlos in Frankreich einmarschieren konnte, lag es teilweise daran, dass es ein von Pazifismus und „Mäßigkeit“ trunkenes Volk vorfand, während die Nazis auf der Höhe ihrer „heldenhaften“ Phase waren. In Brasilien basierte die Popularität von D. Pedro II. größtenteils darauf, dass er die Bestrebungen des Friedens, der Harmonie und der Einfachheit der damaligen Gesellschaft erfüllte. Die antidynastische Propaganda versuchte, die eifrigen Geister des anderen mentalen Klimas gegen den Kaiser aufzubringen, indem sie bestimmte prosaische Seiten des Hofes, die Trägheit des Monarchen, seine übertriebene Einfachheit usw. hervorhob, so dass die Polemik zwischen Monarchisten und Republikanern manchmal widersprüchlichen Ton annahm. Die Monarchisten, die sich nach der Logik ihrer Prinzipien einen majestätischen „kaiserlichen“ Monarchen hätten wünschen sollen, verherrlichten D. Pedro II. als gekrönten Präsidenten. Die Republikaner, die einen gutmütigen und liberalen Kaiser weniger abscheulich finden sollten als einen Herrscher wie D. Johannes V. oder Ludwig XIV., tadelten im Gegenteil scharf den Demokratismus von D. Pedro II.

Die Merkmale dieser verschiedenen Stimmungen sind in allen Bereichen so tiefgreifend, dass sie sogar unerwartet in Bereiche wie Mode und Humor eindringen. In den „heldenhaften“ Zeiten sind es die weiblichen Typen, die am erfolgreichsten sind, die imposanten, grandiosen, tödlichen, Kleopatras. In „gemäßigten“ Perioden fällt die Bewunderung leichter auf Anmut, Leichtigkeit und Freundlichkeit. In den „heldenhaften“ Zeiten sucht der Humor nach Anekdoten oder Sketchen, die homerisches Gelächter hervorrufen. In den „gemäßigten“ Phasen ist ein der Wunsch nach diskretem, nüchternem Humor groß, der einfach nur zum Lächeln bringt.

Offensichtlich wäre ein Mensch, der den großen Schwankungen der öffentlichen Meinung, die wir gerade beschrieben haben, unterworfen ist, ein typischer zügelloser Mensch.

Tatsächlich gibt es solche Veränderungen auch im tugendhaften Menschen, aber in ausgewogener Weise. Es gibt Zeiten, in denen der gemäßigte Geist zum Handeln neigt, und andere zur Ruhe, Momente, in denen seine Seele nach strengen Gipfeln strebt, und andere nach strahlenden Tälern. Doch weil er ausgeglichen ist, weiß er, dass sein Leben für die erhabenen und ernsten Horizonte geschaffen ist, die ihm der Glaube offenbart, im Wechsel zwischen der königlichen Herrlichkeit des Himmels und der ewigen Tragödie der Hölle, wobei das Blut Christi in jedem Augenblick auf dem Spiel steht. Er weiß, dass das Leben Momente der Freude und Stunden des Kampfes, Momente der Ruhe und Momente der Arbeit, des Schmerzes und der Freude, der Intimität und der Feierlichkeit hat. Der ausgeglichene Mensch ist sich bewusst, dass die geistige Gesundheit seiner Seele diese Alternativen verlangt. Und aus diesem Grund wird er sein ganzes Leben nicht nur in einem dieser Zustände verbringen wollen, dem „heroischen“ oder dem „gemäßigten“.

Mehr noch. Seine Stimmungen werden nicht den unentschlossenen Winden seiner Sensibilität ausgeliefert sein. Der nachdenkliche Mensch weiß, wie man sich der Situation stellt, ohne bei trivialen Anlässen lächerliche Grandiosität oder in wichtigen Situationen törichte Trivialität an den Tag zu legen.

Was man von einem gemäßigten Menschen sagt, gilt auch für ein gemäßigtes Volk. Wenn ein Volk auf dem Höhepunkt seiner Kraft ist, offenbart es nicht diese großen Ungleichgewichte der Seele, diesen maßlosen Hunger und diese geistige Erschöpfung, ähnlich dem Hunger und der Erschöpfung der Kranken. Dies lässt sich zum Beispiel vom viktorianischen England sagen, das in der Pracht seines Empires ebenso glorreich war wie im Charme seines Privatlebens.

Es ist offensichtlich, dass wir nicht in einem Jahrhundert der geistigen Ausgeglichenheit leben. Und wenn irgendein Leser anders denkt, möge er erschaudern, denn es ist ein Ungleichgewicht in seiner Seele, das ihn dazu bringt, sich selbst über eine Tatsache, die so offensichtlich ist wie die Sonne, so vollkommen zu täuschen.

Das Ergebnis ist, dass wir alles in Sachen Unmäßigkeit haben. Wir haben „heroische“ Unmäßigkeitstypen ebenso wie „gemäßigte“ Unmäßigkeitstypen, und wir haben die gesamte Bandbreite dazwischen. Denn die Klaviatur der Unmäßigkeit hat tausend Töne.

Von diesen Unmäßigkeiten scheint jedoch die „gemäßigte“ heute unter uns am weitesten verbreitet zu sein.

Zumindest weitgehend ist dies natürlich. Denn der Krieg sorgte für eine Fülle dramatischer und melodramatischer Größe. Im Westen überwog der Einfluss Amerikas. Und dies bringt eine Atmosphäre des Überflusses, des Optimismus und der versöhnlichen Freude im Stil der „netten Jungen“ und „guten Mädchen“ mit sich, eines tiefen Liberalismus, einer impliziten Leugnung der Erbsünde, die eine „gemäßigte“ Maßlosigkeit maximal fördert. Schließlich: Bei guten Badezimmern, guten Kühlschränken, guter Küche, Radio, Fernsehen, Autos, Mayo-Kliniken und Bestattungen bemalter, mit Perlen verzierter und geschmückter Leichen auf lächelnden Friedhöfen, zu den Klängen beruhigender Musik – warum nicht immer lächeln? Und was will der „Gemäßigte“, wenn nicht immer lächeln? Nun ist leicht zu erkennen, wie weit verbreitet diese „gemäßigte“ Tendenz wird.

In Zeitungsartikeln, Reden, Konferenzen und sogar privaten Gesprächen sind die Meinungen, die mit der größten Leichtigkeit, dem größten Nachdruck und der größten Resonanz vertreten werden, immer die „ausgewogenen“, die „gemäßigten“, die mittelmäßigen. Jeder, der eine Meinung angreift, versucht, sie als „extrem“ zu verurteilen. Und seine Verteidiger versuchen, dieses Stigma zu vermeiden, als hinge der Erfolg ihrer Sache davon ab.

Kurz gesagt, ein Slogan aus einer mehr oder weniger unsichtbaren Quelle erfüllt den Westen: Mäßigung! Mäßigung! Da wir grundsätzlich gegen jedes Ungleichgewicht sind, wollen wir uns dem aktuellsten Problem widmen: dieser maßlosen Liebe zur Mäßigung.

Dies wird Thema des nächsten Artikels sein.

 

 

 

Aus dem portugiesischen von „Moderação, Moderação: Slogan que enche o Ocidente“ in Catolicismo von Februar 1954

Die deutsche Fassung dieses Artikels „Mäßigung, Mäßigung: Der Slogan, der durch den Westen hallt“ ist erstmals erschienen in www.p-c-o.blogspot.com

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Freitag, 25. Juli 2025

Plinio Corrêa de Oliveira, eine Berufung in der zeitlichen Ordnung

 

„Ich bin überzeugter Thomist. Der Aspekt der Philosophie, der mich am meisten interessiert, ist die Geschichtsphilosophie.“

Mit diesen Worten beginnt Professor Plinio Corrêa de Oliveira sein 1997 erschienenes „Philosophisches Selbstporträt“. Sein Interesse an der Geschichtsphilosophie war nicht nur intellektuell, sondern auch handlungsorientiert: „Hier finde ich den Punkt, der die beiden Tätigkeitsarten verbindet, denen ich mich mein Leben lang gewidmet habe: Studium und Handeln.“ Letzteres verfolgte er „nicht nur mit dem Charakter des Dialogs, sondern auch der Polemik, so anachronistisch der Begriff und das Wort auch erscheinen mögen.“

Das Ziel dieser Polemik wird in seinem Meisterwerk „Revolution und Gegegnrevolution“ beschrieben, das er als „den Aufsatz, in dem ich die Essenz meines Denkens zusammenfasse und der zugleich die Bedeutung meines Handelns erklärt“ definiert.

Dies ist die Revolution, genauer gesagt der historische Prozess, der seit der Dekadenz des Mittelalters und in klar definierten Phasen die christliche Zivilisation allmählich zerstörte: Humanismus, Renaissance, Protestantismus, Aufklärung, Französische Revolution, Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, bis hin zur gegenwärtigen revolutionären Ära, die mit dem Mai 1968 begann.

Eine Berufung in der weltlichen Ordnung

Neben einigen höchst originellen Erkenntnissen – wie der Betonung der tendenziellen Elemente des revolutionären Prozesses statt der doktrinären – wird bei der Lektüre dieses Buches sofort ein grundlegender Punkt deutlich: Während der Autor die Zentralität der Kirche anerkennt und sie sogar als das ultimative Ziel der Revolution definiert, konzentriert er seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die weltliche Ordnung. Auch sein Handeln war auf die weltliche Ordnung ausgerichtet. Was eine gewisse Ratolsigkeit aufkommen lässt.

Wenn die Kirche tatsächlich der mystische Leib Christi ist, gegründet zur Erlösung der Menschheit, Mutter und Lehrerin der Wahrheit, Mittelpunkt des sakramentalen und geistlichen Lebens, kurz gesagt, das Alpha und Omega von allem, was die Menschheit auf dieser Erde betrifft, fragt man sich, warum ein bewusster und militanter Katholik wie Plinio Corrêa de Oliveira, der ein Leben in Vollkommenheit wählte und sogar zölibatär blieb, um sich ganz seiner Mission zu widmen, nicht den Kirchenstand vorzog.

Und doch war er in diesem Punkt sehr deutlich. Er erkannte den Primat des Kirchenstands an und verbrachte sein gesamtes Leben im bürgerlichen Stand: von seinem Engagement in den Marianischen Kongregationen und der Katholischen Aktion über seine Karriere als Politiker, Professor und Journalist bis hin zur Gründung der Gesellschaften zur Verteidigung von Tradition, Familie und Eigentum, die bürgerliche, nichtkanonische Vereinigungen sind. Im ersten Artikel der Statuten der brasilianischen TFP heißt es, sie habe „bürgerlichen und kulturellen Charakter“. „Wir fühlen uns nicht als Geistliche“, wiederholte Plinio Corrêa de Oliveira, „wir fühlen uns der bürgerlichen Ordnung zugehörig.“

Was sind die Gründe für diese Entscheidung?

Der Dreh- und Angelpunkt der Revolution verschiebt sich

Der revolutionäre Prozess entfaltete sich im politischen und kulturellen Bereich mit dem Humanismus und einer gewissen Renaissance, die die Mentalität des mittelalterlichen Menschen radikal untergrub und den historischen Prozess auslöste, der später mit der „Moderne“ identifiziert wurde. Im 16. Jahrhundert, vielleicht im Glauben, der Boden sei bereits bereitet, versuchte die Revolution einen großen Coup: Mit dem Protestantismus griff sie die Kirche direkt an und versuchte, ihre organische Verfassung, ihre Lehre, ihre Liturgie und ihre Disziplin zu zerstören. „Papsttum, lebendig war ich deine Pest! Tot werde ich dein Tod sein!“, waren die letzten Worte Martin Luthers, einer emblematischen Figur dieser Revolution.

Die Reaktion der Kirche war unmittelbar, tiefgreifend und umfassend: eine Gegenreformation, deren Zentrum das Ökumenische Konzil von Trient war und die von einer Schar seit Jahrhunderten unbekannter Heiliger angeführt wurde, allen voran Papst Pius V. Die Kirche ging das Problem aus allen Blickwinkeln an: theologisch, liturgisch, kulturell, künstlerisch usw. Der Sieg war so überwältigend, dass die Kirche, die aus der Gegenreformation hervorging, bis in die 1960er Jahre weitgehend unbeschadet überlebte.

Nach ihrer Niederlage änderte die Revolution ihre Herangehensweise und übte ihren schädlichen Einfluss verstärkt im weltlichen Bereich aus, um sich dann in die Kirche einzuschleichen. Die Mentalität der Katholiken – von denen 99 % in der Zivilgesellschaft leben – wurde allmählich von den Irrtümern und revolutionären Tendenzen geprägt, die sich im gesamten zivilen Bereich ausbreiteten, von der Aufklärung und der Französischen Revolution bis hin zum Kommunismus und der 68er-Bewegung.

Von diesem Bereich aus war es dann leicht, die Kirche zu beeinflussen. Eine Analyse der Irrtümer und Häresien, die die Braut Christi in den letzten zwei Jahrhunderten geplagt haben – vom liberalen Katholizismus über den Modernismus und die Nouvelle Théologie bis zum Progressivismus – zeigt, dass sie ausnahmslos auf das Eindringen von Irrtümern und Tendenzen im weltlichen Bereich zurückzuführen sind, und zwar immer unter dem Vorwand, die Kirche „an die Zeit anzupassen“. Mit anderen Worten: Revolutionäre Vorstellungen im zivilen Bereich sind zur Matrix der Transformationen im religiösen Bereich geworden. Über den zivilen Bereich wirken sich die Irrtümer der Revolution schließlich auf die Kirche aus. Ein Beispiel unter tausend. Die Liturgiereform von 1969 – der Novus Ordo Missae – wurde weniger als Ergebnis theologischer Reifung präsentiert, sondern vielmehr als „Anpassung an unsere Zeit“ (1), d. h. als notwendig, um der neuen Mentalität gerecht zu werden, die sich in den letzten Jahrzehnten unter den Gläubigen herausgebildet hatte. Eine Mentalität, so bemerken wir, die in 99 % der Fälle durch revolutionäre Veränderungen in der Zivilgesellschaft und nicht durch die Lektüre innovativer Theologen geprägt wurde.

Die theologische Begründung des Novus Ordo Missae, der vom Konzil von Trient abwich, wurde nicht als Wahrheit ex se präsentiert, sondern als „ein Wort, das in einer ganz anderen Epoche des Weltlebens [als dem 16. Jahrhundert] widerhallt“, ein Wort, das „vier Jahrhunderte zuvor undenkbar“ war (2). Mit anderen Worten: Der Lehrrahmen des Konzils von Trient wäre heute überholt, einfach weil sich „das Leben der Welt“ verändert hat.

So wie sich der Fokus revolutionärer Aktionen verschoben hat, hat sich auch der der Reaktion verschoben. Hatte die Vorsehung gegen die erste Revolution einen religiösen Orden, die Jesuiten, und eine Schar kirchlicher Heiliger ins Leben gerufen, so traten gegen die späteren Revolutionen vor allem Laienfiguren auf, von Joseph de Maistre und Juan Donoso Cortés bis hin zu Jean Ousset und Plinio Corrêa de Oliveira. Dies war die leuchtende gegenrevolutionäre katholische Schule, die fast ausschließlich aus Laien bestand. So waren es – mit der einzigen brillanten Ausnahme von Kardinal Fabrizio Ruffo di Calabria – Laien, die der Revolution auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden: von den französischen Vendéenern über die italienischen „Briganti“ und die spanischen Karlisten bis hin zu den mexikanischen Cristeros.

Bedeutung der weltlichen Ordnung

Die Verlagerung des Schwerpunkts revolutionären Handelns vom religiösen in den weltlichen Bereich berücksichtigt den Mechanismus, durch den die Mentalität der Menschen geformt wird.

Die Gesellschaft des Menschen, zu der er von Natur aus gehört und die auf seiner Statur und Proportion beruht, ist die weltliche Gesellschaft. Dann wurde der Mensch durch göttliche Barmherzigkeit ins Übernatürliche erhoben, wodurch er am Leben Gottes teilhat. Sein Bestes lebt daher im Übernatürlichen. Doch das tägliche Leben entfaltet sich im Zeitlichen.

Der Mensch lebt in einer zeitlichen Gesellschaft, gehört ihr an, und alles, was mit ihr zusammenhängt, ist das ständige Thema seiner Gedanken. In dieser Gesellschaft öffnet sich der Mensch dem Leben, zunächst im familiären Umfeld, dann im sozialen, kulturellen, politischen usw. Und dies beruht eher auf tendenziellen als auf doktrinären Einflüssen.

Da Gott geheimnisvolle und wundersame Beziehungen zwischen bestimmten Formen, Farben, Klängen, Düften, Aromen und bestimmten Geisteszuständen geschaffen hat, ist es klar, dass diese Mittel die Mentalitäten tiefgreifend beeinflussen und Einzelpersonen, Familien und Völker zu einem spirituellen Zustand veranlassen können – im Guten wie im Schlechten. Die Umgebungen, Gesetze und Institutionen, in denen wir leben, üben einen Einfluss auf uns aus, erfüllen eine pädagogische Funktion für uns. Ihr Einfluss dringt quasi durch Osmose und durch unsere Poren in uns ein. Soziales Umfeld, Kultur und Zivilisation sind daher mächtige Mittel, Seelen zu beeinflussen. Sie wirken zu ihrem Verderben, wenn Kultur und Zivilisation revolutionär sind. Zu ihrer Erbauung und Rettung, wenn sie katholisch sind.

Die Aufgabe, die weltliche Ordnung zu gestalten und sie auf das geistliche Wohl auszurichten, liegt naturgemäß bei den Laien. Ihnen obliegt es, eine politische Ordnung, eine Gesellschaft, eine Kultur, eine Kunst zu schaffen – kurz gesagt, einen gesellschaftlichen Lebensraum, der den Seelen ein günstiges Klima bietet, um das Wirken der Kirche voll zu empfangen. Andernfalls wird alles Gute, das die Kirche in ihrem eigenen Bereich tun kann, durch einen feindseligen gesellschaftlichen Lebensraum zunichte gemacht. Die weltliche Gesellschaft muss zur geistlichen Gesellschaft führen, wie das Seminar zum Priesterleben führt.

Deshalb widmete Plinio Corrêa de Oliveira seine besten intellektuellen Bemühungen der Klärung der Merkmale eines solchen Lebensraums, nämlich einer christlichen Zivilisation, die heilig und der Kirche dienend ist. Von seinem programmatischen Manifest „Der Kreuzzug des 20. Jahrhunderts“ (1951) über seinen Essay „Anmerkungen zum Begriff des Christentums“ (1953) und sein monumentales (und leider unvollendetes) Werk „Das Christentum: Der silberne Schlüssel“ bis hin zu seinem letzten Buch „Adel und analoge traditionelle Eliten“ (1993) können wir dies als das wahre Leitmotiv von Plinio Corrêa de Oliveiras Denken und Handeln betrachten.

Eine weltliche Berufung

In „Revolution und Gegenrevolution“ erklärt Plinio Corrêa de Oliveira, dass „die Kirche etwas viel Höheres und viel Umfassenderes ist als Revolution und Konterrevolution.“ Doch da die Revolution ihren Höhepunkt der Schädlichkeit erreicht hat, „ist es im Interesse des Seelenheils, ist es von größter Bedeutung für die größere Ehre Gottes, dass die Revolution vernichtet wird.“

Die Kirche ist die Seele dieser Reaktion. Gegegnrevolutionäres Handeln erfordert jedoch eine Neuordnung der weltlichen Gesellschaft angesichts der Ruinen, mit denen die Revolution die ganze Welt bedeckt hat. Diese Aufgabe einer gegenrevolutionären Neuordnung der weltlichen Gesellschaft muss einerseits vollständig von der Lehre der Kirche inspiriert sein, beinhaltet andererseits aber unzählige konkrete und praktische Aspekte, die speziell die gesellschaftliche Ordnung betreffen. So überschreitet die Gegenrevolution den kirchlichen Bereich, bleibt aber durch ihr Lehramt und ihre indirekte Macht stets eng mit der Kirche verbunden.

Angesichts des Ausmaßes der Krise und der enormen Bedeutung gegenrevolutionären Handelns für das Seelenheil ist es logisch, dass dieses Handeln als Berufung verstanden werden kann. Und so beschrieb Plinio Corrêa de Oliveira die TFP als „eine bürgerliche Vereinigung mit religiösem Zweck“, im Einklang mit der consacratio mundi, die Pius XII. als Berufung der Laien begründete und die Johannes Paul II. im Dekret Apostolicam auctositatem weiter präzisierte. Darin erkannte er an, dass es Bereiche des Apostolats gibt, die „weitgehend nur den Laien zugänglich“ und nicht dem Klerus sind.

Dies erklärt vollkommen, wie Plinio Corrêa de Oliveira – der von sich selbst sagte: „Nicht mehr ich lebe, sondern die Kirche lebt in mir“ und „die Kirche ist die Seele meiner Seele“ – sein Bestes intellektuelles Bemühen und Handeln der weltlichen Ordnung widmete, im Vertrauen darauf, der Kirche damit einen unersetzlichen Dienst zu leisten.

Anmerkungen
1. Institutio Generalis Missale Romanum, Nr. 12.
2. Ebenda, Nr. 10.

 

 

Aus dem Italienischen in
https://www.atfp.it/rivista-tfp/2011/96-marzo-2011/490-plinio-correa-de-oliveira-una-vocazione-nellordine-temporale

 https://www.atfp.it/rivista-tfp/2011/96-marzo-2011/490-plinio-correa-de-oliveira-una-vocazione-nellordine-temporale

Die deutsche Fassung dieses Artikels ist erstmals erschienen in

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Mittwoch, 16. Juli 2025

Die Verkündigung und die Haltung der Muttergottes

 


Plinio Corrêa de Oliveira
Vortrag am 25. März 1965


Das Evangelium zu diesem Ereignis lautet wie folgt: (Lukas 1,26-38)

„Als Elisabeth im sechsten Monat war, wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazareth zu einer Jungfrau, die verlobt war mit einem Mann aus dem Hause Davids namens Josef, und der Name der Jungfrau war Maria.

Und er trat bei ihr ein und sprach: ‚Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit dir [, du bist gebenedeit unter den Frauen].“ Sie aber erschrak die dem Worte und dachte nach, was dieser Gruß bedeute.

Der Engel sagte zu ihr: ‚Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und seinen Namen Jesus nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Allerhöchsten genannt werden; Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird herrschen über das Haus Jakob ewiglich, und seines Reiches wird kein Ende sein.“

Maria sagte zum Engel: „Wie wird dies geschehen, da ich einen Mann nicht erkenne?“ Der Engel antwortete ihr: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Kind, das geboren wird, heilig, Sohn Gottes genannt werden.

Siehe, Elisabeth, deine Verwandte, auch sie empfing einen Sohn in ihrem hohen Alter, und dies ist der sechste Monat für sie, die als unfruchtbar galt; denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.“ Maria sprach: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort.“ Und der Engel schied von ihr.

Dieses Evangelium ist voller Nuancen, die ich interessant finde. Erstens, wie gezeigt wird, die Anonymität, in der die Heilige Familie lebte, die Anonymität der Stadt und von allem. Der Plan ist folgender: Gott schickt vom Himmel, als die Zeit erfüllt war, den Erzengel Gabriel auf die Erde. Aber er schickt sie an einen Ort, der allen so unbekannt ist, dass es uns beeindruckt: Er schickt sie in eine Stadt in Galiläa namens Nazareth. Es wird angenommen, dass es war ein kleines Loch, ein Rattennest war. Zu einer Jungfrau, die verlobt war mit einem Mann namens Josef aus dem Hause David. Eine unbekannte Stadt, eine unbekannte Jungfrau, verheiratet mit einem unbekannten Mann. Das einzige bemerkenswerte ist, dass sie aus dem Hause David stammten. Der Name der Jungfrau war Maria. Und der Engel trat ein wo sie sich befand und sprach: „Gegrüßet seist du, Begnadete; der Herr ist mit dir; du bist gebenedeit unter den Frauen.“

Dieses „der Engel trat ein wo sie sich befand“, vermittelt den Eindruck eines abgeschiedenen, isolierten Ortes; die Art des Eintretens suggeriert stark die Vorstellung von Abgeschiedenheit, von Klausur, von etwas was man mit dem Zutritt verletzt.

Mit anderen Worten: Unsere Liebe Frau war an einem Ort völlig allein. Es ist der Gipfel dessen, was die Welt verabscheut: der Mensch, der allein, isoliert, unbekannt, dekadent ist und, was noch schlimmer ist, in seiner Isolation betet. An diesen Menschen richtet sich diese Botschaft. Man kann sich den Engel vorstellen, wie er aus höchsten Himmelshöhen herabschwebt, mit einer gewaltigen Mission betraut, und wie er an den Ort kommt, wo man ihn am wenigsten erwarten würde: ein kleines Dorf, ein kleines Paar, eine Frau, die in ihrem Zimmer zurückgezogen lebt, und dort die wichtigste Botschaft der Geschichte überbringt. All das wird in der Sprache des Textes angedeutet, und es ist schön zu sehen, wie die Text all das einleitet.

Nach der Begrüßung des Engels die Reaktion. Man könnte denken die Reaktion der Angesprochenen wäre: „Man versteht den Wert, den ich habe und endlich werden sie mir gerecht.“

Oder man stellt sich den Engel so vor, dass er völlig beruhigend, vollkommen freundlich und friedlich herabsteigt. Dem ist nicht so.

Es ist merkwürdig: In allen Visionen Unserer Lieben Frau, die ich gelesen habe, wiederholt sich diese Szene. Die Vision hat durch die Überraschung etwas Erschreckendes, Furcht einflößendes. Die Vorstellung von Freundlichkeit, Güte usw. kommt auf, aber die Vorstellung, die bleibt, ist die Angst. Die Kinder von Fatima hatten Angst, die Kinder von La Salette hatten Angst; auch die heilige Bernadette Soubirous fürchtete sich. Es war das Missverhältnis zwischen zwei unterschiedlichen Wesen und etwas so sagenhaft Majestätisches, dass sie erschreckte.

Und das Evangelium sagt: Als sie dies hörte, erschrak sie, und überlegte über die Worte, was dieser Gruß wohl bedeuten könnte. Wir sehen, dass es der Ausdruck ist einer wunderbaren psychischen Distanz. Sie war beunruhigt über diese Worte, das heißt, sie schenkte dem Gesagten genügend Aufmerksamkeit, um den Inhalt zu verstehen, und das beunruhigte sie. „Und sie dachte nach“, welch schöner Ausdruck für die Punkt-für-Punkt-Analyse. Sie analysierte die Botschaft nachdenklich und fragte sich, was dieser Gruß wohl bedeuten könnte.

Was ist das im Großen und Ganzen? Seht, was der Geist Unserer Lieben Frau ist: Angesichts von etwas so Erhabenem und mit allen Merkmalen, von Gott zu kommen, eine Analyse, eine rationale Analyse des Inhalts, Wort für Wort, dessen, was zu ihr gesagt wurde.

So sollten auch wir sein. Auch angesichts der erstaunlichsten, unerwartesten und wunderbarsten Dinge nicht den Kopf verlieren, sondern darüber nachdenken.

In einer anderen Episode, nach der Geburt unseres Herrn, erzählt uns das Evangelium, dass Unsere Liebe Frau all diese Dinge bewahrte und erwog sie in ihrem Herzen. Sie war überaus analytisch und nachdenklich, was im Widerspruch zu den Bildern der romantischen Frömmigkeit steht, die uns eine gedankenlose, törichte und puppenhafte Person präsentieren.

Einer der Gründe, warum mir das Bild in meinem Büro gefällt, ist dieser: Ich finde es nicht sehr fromm, aber es hat etwas Interessantes, und genau das ist es: Unsere Liebe Frau ist ein Mensch mit Urteilsvermögen, Prinzipientreue und fähig zum Denken. Sie betrachtet die Dinge mit kritischem Blick.

Und hier ist das Beispiel für uns: ein Mensch mit Urteilsvermögen zu sein. Selbst was von Gott kommt, analysiert sie, nicht misstrauisch, sondern nachdenklich. Ich weiß, hier könnte man noch einen weiteren Kommentar zur Demut machen; aber dieser ist bereits so bekannt, dass Sie mir erlauben, einen Kommentar zu machen, der normalerweise nicht über das Evangelium gemacht wird. Der Engel, der mit Gottes Erlaubnis wusste, was in ihr vorging – man beachte, dass sie dem Engel keine Fragen stellte, als überlegte sie, was sie fragen sollte, und dass sie ihre eigenen Fragen noch nicht formuliert hatte –, als der Engel eintrat: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade bei Gott gefunden.“ Mit anderen Worten: Du hast nichts zu befürchten, denn Gott ist vollkommen zufrieden mit dir. Diese Worte des Engels waren gewiss von einer Gnade des Friedens begleitet; Frieden strömte in ihr auf, ein unermesslicher Frieden. Und dann, ganz natürlich, schritt sie voran.

Nun fällt etwas Merkwürdiges auf: Gottes Respekt vor dem erkennenden und denkenden Geschöpf, vor dem analysierenden Geschöpf. Sie war zu Recht beunruhigt, und der Engel klärte sie auf, als ob er ihr zustimmen würde, dass sie wissen wollte, was dieser Gruß zu bedeuten hatte. Und der Grund, den der Engel nennt, erklärt ihren Zweifel. Der Engel sagt ihr mit der Autorität eines Sprechenden, dass sie tatsächlich Gnade bei Gott gefunden hat. Sie ist so heilig, so tugendhaft, Gott hat ihr so viele Gnaden geschenkt, dass dieser Gruß verdient war. Und dann beruhigte sie sich. Nachdem sie den seelischen Boden in sich bereitet und ihre Demut darauf vorbereitet hatte, dies zu empfangen, kam die Erklärung: „Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Allerhöchsten genannt werden. Und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird über das Haus Jakob für immer herrschen, und sein Reich wird kein Ende haben.“ Das jüdische Volk war erfüllt von der Hoffnung auf einen König, der den Thron besteigen und König werden und dann über die ganze Erde herrschen würde. Die ihr gegebene Verheißung sollte diese irdische Hoffnung rechtfertigen: Es war der Messias, von dem alle wussten, dass er von David und von ihr geboren werden würde und der König sein würde, den die Völker erwarteten. Aber Davids Thron – darauf warteten alle – ein irdisches, materielles Königtum. Wir erfahren später, wie sich die Dinge entwickelt haben.

Oft spricht Gott in unseren Seelen; und Gott entfacht auf geheimnisvolle Weise Hoffnung in einer Seele. Die Seele versteht, worauf Gott sie hoffen ließ, auf eine bestimmte Weise; Gott gibt sie ihr auf eine ganz andere Weise, als sie erwartet hatte. Zum Beispiel sagt er: „Du wirst groß sein.“ Das wirst du sein: Nach dem Tod wirst du heiliggesprochen und an die Spitze des Petersdoms gestellt. Aber im Leben wirst du ein Müllmann sein. Gott sagt: „Mein Sohn, ich habe dich erwählt, um deinen Namen unter allen Völkern zu verherrlichen; bis ans Ende der Zeit wirst du als denkwürdiges Beispiel in Erinnerung bleiben usw., und Menschen aus Ost und West, aus Süd und Nord werden sich vor dir verneigen.“

Es stimmt. In der Basilika, am Tag der Heiligsprechung, gibt es X, Y, Z, und das Versprechen erfüllt sich anders, als der Mensch es am Tag seiner Ablegung verstanden hat.

Wie oft geschieht das in unserer Berufung? Gott gibt das Versprechen auf eine Weise, der Einzelne versteht es anders. Und so behandelt Gott seine Liebsten; so verwirklicht er seine wunderbarsten Pläne. Bereiten wir uns deshalb vor, denn die Verkündigung selbst enthielt eine Formulierung, die das jüdische Volk anders verstand. Es sind die Wege Gottes, die wir kennen müssen.

Nach so etwas Erstaunlichem erhebt sich ein Einwand. Und ein moralischer Einwand. Denn sie spürte: Gott lenkt schließlich alles. Ich brauche nicht zu fragen. Doch ein Einwand erhebt sich; man beachte die Festigkeit ihrer Persönlichkeit, die an die wohlgepredigten und ungeschönten Exerzitien des heiligen Ignatius von Loyola erinnert. Maria fragte den Engel: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann kenne?“ Und der Engel antwortete ihr: „Der Heilige Geist wird auf dich herabsteigen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Und genau deshalb wird der Heilige, der von dir geboren wird, Sohn des Allerhöchsten genannt werden“.

Dann, als Belohnung für ihre Frage, die bestätigt, dass sie so anspruchsvoll gewesen war, dass sie gefragt hatte, entfaltet sich die Wahrheit der Botschaft, während sie fragt, als wolle Gott, dass sie frage, damit die Botschaft sich entfalten kann. Dann ist das Wunder der Botschaft vollkommen; zuerst ist es göttliche Mutterschaft, dann jungfräuliche Mutterschaft, und genau deshalb wird er der Sohn Gottes genannt. Darin liegt die ganze Erklärung des Wunders, das geschehen wird.

Und es folgt eine Art entschuldigende Bestätigung: Denn für Gott, da alles möglich ist, und um auch den Plan zu erklären, sagt der Engel: Siehe, Elisabeth, deine Verwandte, hat in ihrem hohen Alter einen Sohn empfangen, und dies ist der sechste Monat für sie, die unfruchtbar genannt ward, denn für Gott ist nichts unmöglich. Es ist wie ein Hinweis darauf, dass sie schließlich durch äußere Tatsachen die vollständige Bestätigung der inneren Tatsache sehen würde, die in ihr wirkte.

All dies erklärt – nicht, dass es Zweifel gegeben hätte, sondern weil der Mensch rational handelt – findet Eingang in die Annahme Unserer Lieben Frau. Und dann sagte Maria: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort.“ Hier zeigt sich eine völlig stimmige Haltung. Ihr Kommentar war der von jemandem, der die Lektion im Kern verstanden hatte: Wenn Gott mir dies mitteilte, dann, weil er meine Zustimmung will. Deshalb gebe ich, was Gott mir zu erbitten befohlen hat. Man erkennt eine Tiefe, eine Logik, eine Seelenstärke, die ich noch nie von einem Prediger betont gehört habe.

Ich verzichte also auf die üblichen Kommentare und wende mich diesen Überlegungen zu, die uns einen Blick auf die unergründlich heilige Seele Unserer Lieben Frau gewähren. Und dann verstehen wir diesen logischen Geist, voller Glauben und Gehorsam, aber dennoch schlüssig und begierig, die Dinge klar zu erkennen, nicht aus Zweifel oder Misstrauen, sondern weil Logik Wahrheit ist.

Der Engel zog sich von ihr zurück. Den besten Theologen zufolge erfolgte die Empfängnis sofort. Ein unergründliches Wirken des Heiligen Geistes wirkte in Unserer Lieben Frau; der Engel zog sich zurück, und die Prophezeiung erfüllte sich sofort. Es ist ein Mysterium, das wir erst in der Ewigkeit erfahren werden. Der vage Aspekt, der im Nachhinein bleibt und in dem wir alles erahnen können, lässt uns nur einen Gedanken: Die Sache ist so groß, dass sie, was auch immer geschehen sein mag, jeden menschlichen Verstand übersteigt. Es entsteht eine Pause voller Leere. Der Rest wird nicht gesprochen. Es ist die absolute Stille, die das Evangelium über die Dinge hinweggehen lässt und die den angemessenen Rahmen für Sammlung, für Meditation bildet, der heiligen und liturgischen Dingen gebührt.

Aus diesem Grund wurde in einigen östlichen Riten bei der Wandlung ein Schleier um den Priester gelegt, so heilig und geheimnisvoll ist die Handlung.

Wir sehen hier also, dass der religiöse Sinn ein gewisses Gefühl des Mysteriums erfordert und dass die Dinge Gottes zugleich sprechen und schweigen; und man erkennt nicht daran, was sie mehr sagen: daran, was sie sprechen oder daran, was sie verschweigen. Es ist daher verständlich, dass es sich von den Höhen dieser erhabenen Missionen unterscheidet, alles einfach, erklärt, begleitet und genau zu tun.

Bewahren wir dies für unsere Seelen, um diese unermessliche Größe in einer unnachgiebigen Logik zu lieben. Darin liegt die wahre Würde der Dinge Gottes. Bitten wir die Muttergottes, uns mit dem Mantel ihres Geistes zu bedecken, und zwar in dieser Weise und mit diesen Worten: Gebe uns einen jungfräulichen, reinen Geist, der die Klarheit und die Kohärenz des Geistes besitzt. Keuschheit ist eine große Kohärenz, und Kohärenz ist eine große Keuschheit. Bitten wir heute Abend um dieses Geschenk.

 

 Aus dem Portugiesischen von einem Vortrag am 25. März 1965, „Die Verkündigung und die Haltung der Muttergottes“.

Die deutsche Fassung dieses Artikels ist erstmals erschienen in www.p-c-o.blogspot.com

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