Mittwoch, 30. Juli 2025

Mäßigung! Mäßigung!: Der Slogan, der durch den Westen hallt

 Man soll mäßig in allem sein, selbst in der Mäßigung

Plinio Corrêa de Oliveira

Mit bewundernswerter Einsicht stellte der glorreich regierende Heilige Vater Pius XII. den seligen Pius X. den Gläubigen unseres Jahrhunderts als Vorbild in der Ausübung der Kardinaltugenden vor, die in der Praxis manchmal so schwer zu harmonisieren sind. Mit einem sehr gütigen Herzen neigte Pius X. von Natur aus zur Güte. Er verstand es jedoch hervorragend, die Tugend der Tapferkeit zu praktizieren. So gab er uns das Beispiel eines maßvollen Lebens in allen Dingen, einschließlich der intelligenten und starken Ausübung der Tugend der Mäßigung.


Die Gemütsverfassungen variieren in den Völkern wie im einzelnen Menschen. Es gibt Zeiten, in denen die öffentliche Meinung einer Nation nur von extremen Meinungen, von krachenden Behauptungen oder Verneinungen, den großen Kontroversen, den Rednern mit überragender Beredsamkeit und den Männern, die zu großen Taten fähig, begeistert sind. Ein französisches Sprichwort sagt: „tout passe, tout casse, tout lasse ... et tout se remplace“(*). Diese Liebe für das Grandiose neigt leicht zur Übertreibung. Vom authentischen Heldentum übergeht man leicht zum Melodram, und da niemand in einer gesättigten Atmosphäre von Blitzen und Wetterleuchten, dröhnenden Donnern, dem Aufprall aller Winde, hoch oben auf hohen Gipfeln überleben kann, schwindet die Energie und eine dumpfe Nostalgie des Alltags, mit seiner Sorglosigkeit, mit seiner Milde, mit den vegetativen Vergnügungen, die es bietet, die Herzen schwächt. Die Helden und die Heldentaten kommen aus der Mode. Der Geist, gesättigt und der Ideale überdrüssig, verlagert seine Vorlieben allmählich zu einem anderen Pol, hin zu den Formen der Tugend, die die Ruhe des Lebens gewährleisten. Es ist das Zeitalter der Gemäßigten, das heßt der Journalisten, die die nächste Lösung aller Probleme vorhersagen, der lächelnden Denker, die die Auseinandersetzungen mit Geschick dämpfen, indem sie geschickte „Mittelwege“ unter den extremen Meinungen finden, der Künstler, die Stile und Formen der Schönheit präsentieren, die zu einem friedlichen und lächelnden Leben passen, usw. Nach einer gewissen Zeit erholen sich die Gemüter wieder, die Energie kehrt zurück. Der Alltag beginnt lästig zu werden. Die Luft scheint still und stickig in der Schläfrigkeit der täglichen Routine. Der Appetit zum Großartigen komm zurück. Und der Kreislauf beginnt von neuem.

 *) Alles vergeht, alles zerbricht, alles wird langweilig ... und alles wird ersetzt. 

Wie lange dauert jeder dieser Zyklen? Das ist höchst variabel. Manchmal folgen diese Zyklen im Leben einer gleichen Generation schnell aufeinander. In anderes Mal ist ihre Langsamkeit so groß, dass er sich träge durch die Generationen schleppt.

Tatsache ist jedoch, dass dieses Phänomen existiert und das gesamte politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben zutiefst prägt. Der Untergang von Byzanz lag hauptsächlich daran, dass sich die Gemüter in der „gemäßigten“ und vegetativen Phase befanden, während die Ereignisse Heldentum erforderten. Napoleons Sturz wurde maßgeblich dadurch begünstigt, dass das Klima einer fast melodramatischen Größe des Imperiums alle Franzosen, von Ney bis zum letzten der kleinen Bourgeois, satt hatten. Wenn Deutschland 1940 so problemlos in Frankreich einmarschieren konnte, lag es teilweise daran, dass es ein von Pazifismus und „Mäßigkeit“ trunkenes Volk vorfand, während die Nazis auf der Höhe ihrer „heldenhaften“ Phase waren. In Brasilien basierte die Popularität von D. Pedro II. größtenteils darauf, dass er die Bestrebungen des Friedens, der Harmonie und der Einfachheit der damaligen Gesellschaft erfüllte. Die antidynastische Propaganda versuchte, die eifrigen Geister des anderen mentalen Klimas gegen den Kaiser aufzubringen, indem sie bestimmte prosaische Seiten des Hofes, die Trägheit des Monarchen, seine übertriebene Einfachheit usw. hervorhob, so dass die Polemik zwischen Monarchisten und Republikanern manchmal widersprüchlichen Ton annahm. Die Monarchisten, die sich nach der Logik ihrer Prinzipien einen majestätischen „kaiserlichen“ Monarchen hätten wünschen sollen, verherrlichten D. Pedro II. als gekrönten Präsidenten. Die Republikaner, die einen gutmütigen und liberalen Kaiser weniger abscheulich finden sollten als einen Herrscher wie D. Johannes V. oder Ludwig XIV., tadelten im Gegenteil scharf den Demokratismus von D. Pedro II.

Die Merkmale dieser verschiedenen Stimmungen sind in allen Bereichen so tiefgreifend, dass sie sogar unerwartet in Bereiche wie Mode und Humor eindringen. In den „heldenhaften“ Zeiten sind es die weiblichen Typen, die am erfolgreichsten sind, die imposanten, grandiosen, tödlichen, Kleopatras. In „gemäßigten“ Perioden fällt die Bewunderung leichter auf Anmut, Leichtigkeit und Freundlichkeit. In den „heldenhaften“ Zeiten sucht der Humor nach Anekdoten oder Sketchen, die homerisches Gelächter hervorrufen. In den „gemäßigten“ Phasen ist ein der Wunsch nach diskretem, nüchternem Humor groß, der einfach nur zum Lächeln bringt.

Offensichtlich wäre ein Mensch, der den großen Schwankungen der öffentlichen Meinung, die wir gerade beschrieben haben, unterworfen ist, ein typischer zügelloser Mensch.

Tatsächlich gibt es solche Veränderungen auch im tugendhaften Menschen, aber in ausgewogener Weise. Es gibt Zeiten, in denen der gemäßigte Geist zum Handeln neigt, und andere zur Ruhe, Momente, in denen seine Seele nach strengen Gipfeln strebt, und andere nach strahlenden Tälern. Doch weil er ausgeglichen ist, weiß er, dass sein Leben für die erhabenen und ernsten Horizonte geschaffen ist, die ihm der Glaube offenbart, im Wechsel zwischen der königlichen Herrlichkeit des Himmels und der ewigen Tragödie der Hölle, wobei das Blut Christi in jedem Augenblick auf dem Spiel steht. Er weiß, dass das Leben Momente der Freude und Stunden des Kampfes, Momente der Ruhe und Momente der Arbeit, des Schmerzes und der Freude, der Intimität und der Feierlichkeit hat. Der ausgeglichene Mensch ist sich bewusst, dass die geistige Gesundheit seiner Seele diese Alternativen verlangt. Und aus diesem Grund wird er sein ganzes Leben nicht nur in einem dieser Zustände verbringen wollen, dem „heroischen“ oder dem „gemäßigten“.

Mehr noch. Seine Stimmungen werden nicht den unentschlossenen Winden seiner Sensibilität ausgeliefert sein. Der nachdenkliche Mensch weiß, wie man sich der Situation stellt, ohne bei trivialen Anlässen lächerliche Grandiosität oder in wichtigen Situationen törichte Trivialität an den Tag zu legen.

Was man von einem gemäßigten Menschen sagt, gilt auch für ein gemäßigtes Volk. Wenn ein Volk auf dem Höhepunkt seiner Kraft ist, offenbart es nicht diese großen Ungleichgewichte der Seele, diesen maßlosen Hunger und diese geistige Erschöpfung, ähnlich dem Hunger und der Erschöpfung der Kranken. Dies lässt sich zum Beispiel vom viktorianischen England sagen, das in der Pracht seines Empires ebenso glorreich war wie im Charme seines Privatlebens.

Es ist offensichtlich, dass wir nicht in einem Jahrhundert der geistigen Ausgeglichenheit leben. Und wenn irgendein Leser anders denkt, möge er erschaudern, denn es ist ein Ungleichgewicht in seiner Seele, das ihn dazu bringt, sich selbst über eine Tatsache, die so offensichtlich ist wie die Sonne, so vollkommen zu täuschen.

Das Ergebnis ist, dass wir alles in Sachen Unmäßigkeit haben. Wir haben „heroische“ Unmäßigkeitstypen ebenso wie „gemäßigte“ Unmäßigkeitstypen, und wir haben die gesamte Bandbreite dazwischen. Denn die Klaviatur der Unmäßigkeit hat tausend Töne.

Von diesen Unmäßigkeiten scheint jedoch die „gemäßigte“ heute unter uns am weitesten verbreitet zu sein.

Zumindest weitgehend ist dies natürlich. Denn der Krieg sorgte für eine Fülle dramatischer und melodramatischer Größe. Im Westen überwog der Einfluss Amerikas. Und dies bringt eine Atmosphäre des Überflusses, des Optimismus und der versöhnlichen Freude im Stil der „netten Jungen“ und „guten Mädchen“ mit sich, eines tiefen Liberalismus, einer impliziten Leugnung der Erbsünde, die eine „gemäßigte“ Maßlosigkeit maximal fördert. Schließlich: Bei guten Badezimmern, guten Kühlschränken, guter Küche, Radio, Fernsehen, Autos, Mayo-Kliniken und Bestattungen bemalter, mit Perlen verzierter und geschmückter Leichen auf lächelnden Friedhöfen, zu den Klängen beruhigender Musik – warum nicht immer lächeln? Und was will der „Gemäßigte“, wenn nicht immer lächeln? Nun ist leicht zu erkennen, wie weit verbreitet diese „gemäßigte“ Tendenz wird.

In Zeitungsartikeln, Reden, Konferenzen und sogar privaten Gesprächen sind die Meinungen, die mit der größten Leichtigkeit, dem größten Nachdruck und der größten Resonanz vertreten werden, immer die „ausgewogenen“, die „gemäßigten“, die mittelmäßigen. Jeder, der eine Meinung angreift, versucht, sie als „extrem“ zu verurteilen. Und seine Verteidiger versuchen, dieses Stigma zu vermeiden, als hinge der Erfolg ihrer Sache davon ab.

Kurz gesagt, ein Slogan aus einer mehr oder weniger unsichtbaren Quelle erfüllt den Westen: Mäßigung! Mäßigung! Da wir grundsätzlich gegen jedes Ungleichgewicht sind, wollen wir uns dem aktuellsten Problem widmen: dieser maßlosen Liebe zur Mäßigung.

Dies wird Thema des nächsten Artikels sein.

 

 

 

Aus dem portugiesischen von „Moderação, Moderação: Slogan que enche o Ocidente“ in Catolicismo von Februar 1954

Die deutsche Fassung dieses Artikels „Mäßigung, Mäßigung: Der Slogan, der durch den Westen hallt“ ist erstmals erschienen in www.p-c-o.blogspot.com

© Veröffentlichung dieser deutschen Fassung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.




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