Man soll mäßig in allem sein, selbst in der Mäßigung
Plinio Corrêa de Oliveira
Mit bewundernswerter Einsicht stellte der glorreich regierende Heilige Vater Pius XII. den seligen Pius X. den Gläubigen unseres Jahrhunderts als Vorbild in der Ausübung der Kardinaltugenden vor, die in der Praxis manchmal so schwer zu harmonisieren sind. Mit einem sehr gütigen Herzen neigte Pius X. von Natur aus zur Güte. Er verstand es jedoch hervorragend, die Tugend der Tapferkeit zu praktizieren. So gab er uns das Beispiel eines maßvollen Lebens in allen Dingen, einschließlich der intelligenten und starken Ausübung der Tugend der Mäßigung.
Die Gemütsverfassungen
variieren in den Völkern wie im einzelnen Menschen. Es gibt Zeiten, in denen
die öffentliche Meinung einer Nation nur von extremen Meinungen, von krachenden
Behauptungen oder Verneinungen, den großen Kontroversen, den Rednern mit überragender
Beredsamkeit und den Männern, die zu großen Taten fähig, begeistert sind. Ein
französisches Sprichwort sagt: „tout passe, tout casse, tout lasse ... et tout
se remplace“(*). Diese Liebe für das Grandiose neigt leicht zur Übertreibung. Vom
authentischen Heldentum übergeht man leicht zum Melodram, und da niemand in
einer gesättigten Atmosphäre von Blitzen und Wetterleuchten, dröhnenden Donnern,
dem Aufprall aller Winde, hoch oben auf hohen Gipfeln überleben kann, schwindet
die Energie und eine dumpfe Nostalgie des Alltags, mit seiner Sorglosigkeit,
mit seiner Milde, mit den vegetativen Vergnügungen, die es bietet, die Herzen schwächt.
Die Helden und die Heldentaten kommen aus der Mode. Der Geist, gesättigt und
der Ideale überdrüssig, verlagert seine Vorlieben allmählich zu einem anderen
Pol, hin zu den Formen der Tugend, die die Ruhe des Lebens gewährleisten. Es
ist das Zeitalter der Gemäßigten, das heßt der Journalisten, die die nächste
Lösung aller Probleme vorhersagen, der lächelnden Denker, die die Auseinandersetzungen
mit Geschick dämpfen, indem sie geschickte „Mittelwege“ unter den extremen
Meinungen finden, der Künstler, die Stile und Formen der Schönheit
präsentieren, die zu einem friedlichen und lächelnden Leben passen, usw. Nach
einer gewissen Zeit erholen sich die Gemüter wieder, die Energie kehrt zurück.
Der Alltag beginnt lästig zu werden. Die Luft scheint still und stickig in der Schläfrigkeit
der täglichen Routine. Der Appetit zum Großartigen komm zurück. Und der Kreislauf
beginnt von neuem.
*) Alles vergeht, alles zerbricht, alles wird langweilig ... und alles wird ersetzt.
Wie lange dauert jeder dieser Zyklen? Das ist höchst variabel. Manchmal folgen diese Zyklen im Leben einer gleichen Generation schnell aufeinander. In anderes Mal ist ihre Langsamkeit so groß, dass er sich träge durch die Generationen schleppt.
Tatsache ist jedoch, dass dieses Phänomen existiert und
das gesamte politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben zutiefst prägt.
Der Untergang von Byzanz lag hauptsächlich daran, dass sich die Gemüter in der
„gemäßigten“ und vegetativen Phase befanden, während die Ereignisse Heldentum erforderten.
Napoleons Sturz wurde maßgeblich dadurch begünstigt, dass das Klima einer fast
melodramatischen Größe des Imperiums alle Franzosen, von Ney bis zum letzten
der kleinen Bourgeois, satt hatten. Wenn Deutschland 1940 so problemlos in
Frankreich einmarschieren konnte, lag es teilweise daran, dass es ein von Pazifismus
und „Mäßigkeit“ trunkenes Volk vorfand, während die Nazis auf der Höhe ihrer „heldenhaften“
Phase waren. In Brasilien basierte die Popularität von D. Pedro II. größtenteils
darauf, dass er die Bestrebungen des Friedens, der Harmonie und der Einfachheit
der damaligen Gesellschaft erfüllte. Die antidynastische Propaganda versuchte, die
eifrigen Geister des anderen mentalen Klimas gegen den Kaiser aufzubringen,
indem sie bestimmte prosaische Seiten des Hofes, die Trägheit des Monarchen, seine
übertriebene Einfachheit usw. hervorhob, so dass die Polemik zwischen
Monarchisten und Republikanern manchmal widersprüchlichen Ton annahm. Die
Monarchisten, die sich nach der Logik ihrer Prinzipien einen majestätischen „kaiserlichen“
Monarchen hätten wünschen sollen, verherrlichten D. Pedro II. als gekrönten
Präsidenten. Die Republikaner, die einen gutmütigen und liberalen Kaiser
weniger abscheulich finden sollten als einen Herrscher wie D. Johannes V. oder
Ludwig XIV., tadelten im Gegenteil scharf den Demokratismus von D. Pedro II.
Die Merkmale dieser verschiedenen Stimmungen sind in
allen Bereichen so tiefgreifend, dass sie sogar unerwartet in Bereiche wie Mode
und Humor eindringen. In den „heldenhaften“ Zeiten sind es die weiblichen
Typen, die am erfolgreichsten sind, die imposanten, grandiosen, tödlichen, Kleopatras.
In „gemäßigten“ Perioden fällt die Bewunderung leichter auf Anmut, Leichtigkeit
und Freundlichkeit. In den „heldenhaften“ Zeiten sucht der Humor nach Anekdoten
oder Sketchen, die homerisches Gelächter hervorrufen. In den „gemäßigten“ Phasen
ist ein der Wunsch nach diskretem, nüchternem Humor groß, der einfach nur zum
Lächeln bringt.
Offensichtlich wäre ein Mensch, der den großen
Schwankungen der öffentlichen Meinung, die wir gerade beschrieben haben,
unterworfen ist, ein typischer zügelloser Mensch.
Tatsächlich gibt es solche Veränderungen auch im
tugendhaften Menschen, aber in ausgewogener Weise. Es gibt Zeiten, in denen der
gemäßigte Geist zum Handeln neigt, und andere zur Ruhe, Momente, in denen seine
Seele nach strengen Gipfeln strebt, und andere nach strahlenden Tälern. Doch
weil er ausgeglichen ist, weiß er, dass sein Leben für die erhabenen und
ernsten Horizonte geschaffen ist, die ihm der Glaube offenbart, im Wechsel
zwischen der königlichen Herrlichkeit des Himmels und der ewigen Tragödie der
Hölle, wobei das Blut Christi in jedem Augenblick auf dem Spiel steht. Er weiß,
dass das Leben Momente der Freude und Stunden des Kampfes, Momente der Ruhe und
Momente der Arbeit, des Schmerzes und der Freude, der Intimität und der
Feierlichkeit hat. Der ausgeglichene Mensch ist sich bewusst, dass die geistige
Gesundheit seiner Seele diese Alternativen verlangt. Und aus diesem Grund wird
er sein ganzes Leben nicht nur in einem dieser Zustände verbringen wollen, dem
„heroischen“ oder dem „gemäßigten“.
Mehr noch. Seine Stimmungen werden nicht den
unentschlossenen Winden seiner Sensibilität ausgeliefert sein. Der
nachdenkliche Mensch weiß, wie man sich der Situation stellt, ohne bei trivialen
Anlässen lächerliche Grandiosität oder in wichtigen Situationen törichte
Trivialität an den Tag zu legen.
Was man von einem gemäßigten Menschen sagt, gilt auch für
ein gemäßigtes Volk. Wenn ein Volk auf dem Höhepunkt seiner Kraft ist,
offenbart es nicht diese großen Ungleichgewichte der Seele, diesen maßlosen
Hunger und diese geistige Erschöpfung, ähnlich dem Hunger und der Erschöpfung
der Kranken. Dies lässt sich zum Beispiel vom viktorianischen England sagen,
das in der Pracht seines Empires ebenso glorreich war wie im Charme seines
Privatlebens.
Es ist offensichtlich, dass wir nicht in einem
Jahrhundert der geistigen Ausgeglichenheit leben. Und wenn irgendein Leser
anders denkt, möge er erschaudern, denn es ist ein Ungleichgewicht in seiner
Seele, das ihn dazu bringt, sich selbst über eine Tatsache, die so
offensichtlich ist wie die Sonne, so vollkommen zu täuschen.
Das Ergebnis ist, dass wir alles in Sachen Unmäßigkeit
haben. Wir haben „heroische“ Unmäßigkeitstypen ebenso wie „gemäßigte“
Unmäßigkeitstypen, und wir haben die gesamte Bandbreite dazwischen. Denn die
Klaviatur der Unmäßigkeit hat tausend Töne.
Von diesen Unmäßigkeiten scheint jedoch die „gemäßigte“
heute unter uns am weitesten verbreitet zu sein.
Zumindest weitgehend ist dies natürlich. Denn der Krieg
sorgte für eine Fülle dramatischer und melodramatischer Größe. Im Westen
überwog der Einfluss Amerikas. Und dies bringt eine Atmosphäre des Überflusses,
des Optimismus und der versöhnlichen Freude im Stil der „netten Jungen“ und „guten
Mädchen“ mit sich, eines tiefen Liberalismus, einer impliziten Leugnung der
Erbsünde, die eine „gemäßigte“ Maßlosigkeit maximal fördert. Schließlich: Bei
guten Badezimmern, guten Kühlschränken, guter Küche, Radio, Fernsehen, Autos,
Mayo-Kliniken und Bestattungen bemalter, mit Perlen verzierter und geschmückter
Leichen auf lächelnden Friedhöfen, zu den Klängen beruhigender Musik – warum
nicht immer lächeln? Und was will der „Gemäßigte“, wenn nicht immer lächeln?
Nun ist leicht zu erkennen, wie weit verbreitet diese „gemäßigte“ Tendenz wird.
In Zeitungsartikeln, Reden, Konferenzen und sogar
privaten Gesprächen sind die Meinungen, die mit der größten Leichtigkeit, dem
größten Nachdruck und der größten Resonanz vertreten werden, immer die
„ausgewogenen“, die „gemäßigten“, die mittelmäßigen. Jeder, der eine Meinung
angreift, versucht, sie als „extrem“ zu verurteilen. Und seine Verteidiger
versuchen, dieses Stigma zu vermeiden, als hinge der Erfolg ihrer Sache davon
ab.
Kurz gesagt, ein Slogan aus einer mehr oder weniger
unsichtbaren Quelle erfüllt den Westen: Mäßigung! Mäßigung! Da wir
grundsätzlich gegen jedes Ungleichgewicht sind, wollen wir uns dem aktuellsten
Problem widmen: dieser maßlosen Liebe zur Mäßigung.
Dies wird Thema des nächsten Artikels sein.
Aus dem portugiesischen von „Moderação, Moderação: Slogan que enche o Ocidente“
in Catolicismo von Februar 1954
Die deutsche Fassung dieses Artikels „Mäßigung, Mäßigung: Der Slogan, der durch den Westen
hallt“ ist erstmals erschienen in www.p-c-o.blogspot.com
© Veröffentlichung dieser deutschen Fassung ist mit
Quellenangabe dieses Blogs gestattet.
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