Mittwoch, 19. April 2023

Lob für die Schweigenden des Westens

Plinio Corrêa de Oliveira

     Man möge nicht meinen, es gäbe in unserem Jahrhundert aus der Sicht eines Freundes der Tradition nichts Lobenswertes. Im Gegenteil, wenn man die Realität sorgfältig analysiert, gibt es ernsthafte Gründe, bestimmte Aspekte der heutigen Welt zu begrüßen. Es geht vor allem um die Aspekte, in denen die heutige Welt nicht ganz das ist, was herkömmlich „die Welt von heute“ genannt wird.

     Ich erkläre mich. Wenn „heutige Welt“ als eine Gruppe von Menschen verstanden wird, die in ihrer Mentalität, in ihren wechselseitigen Beziehungen und in ihren Leistungen vom sogenannten „modernen Geist“ beeinflusst werden, sehe ich daran eigentlich nichts Lobenswertes. Denn unter „modernem Geist“ verstehe ich hier eine gewisse Mentalität, die Ernsthaftigkeit und Gelassenheit grundsätzlich entgegensteht und gerade deshalb zu Extravaganz, zur Unordnung, zur Widersprüchlichkeit, zur Lockerung aller Verhaltensregeln neigt, von den kleinsten gesellschaftlichen Konventionen bis zu den erhabensten Grundsätzen der Moral. Kurz gesagt, eine Mentalität, die ausschließlich aus Nonkonformismus und Revolte, Begierde und Sinnlichkeit, schockierender Brutalität und empfindsame Sentimentalität besteht. Was kann daran lobenswert sein?

     Aber – wird mir jemand sagen – wo finde ich Leute, die all diese Mängel gleichzeitig zusammenbringen? Es gibt sie natürlich, obwohl sie eine Minderheit sind. Aber nicht irgendeine Minderheit. Sie bilden einen Kern, einen Kern mitten im Zentrum einer immensen Peripherie von Beteiligten. Von diesen hat jeder nur einen oder wenige Fehler, die im Kern gesammelt werden. Aber nichtsdestotrotz sind die Eigenschaften des Kerns alle in der immensen Peripherie vorhanden, wenn auch in fragmentierter und diffuser Weise. Wenn die soeben gegebene Beschreibung des Kerns nicht für jede seiner Komponenten gilt, so gilt diese Beschreibung dennoch vollständig für die Peripherie als Ganzes betrachtet.

     Mit anderen Worten, bei manchen überwiegt Brutalität, bei anderen Faulheit, bei wieder anderen Sinnlichkeit oder Revolte. Dadurch sind alle für den Kern typischen Defekte in der Peripherie insgesamt vorhanden.

     Die moderne Welt besteht nicht nur aus diesem Kern und dieser Peripherie. Um letztere erstreckt sich die noch breitere Zone der Nachsichtigen, das heißt der Menschen, die, wenn auch nur am Rande, an den Fehlern der Peripherie teilhaben, deren Ausbreitung aber dennoch mit einer Nachsicht miterleben, die nicht selten bis zur Duldung führen. Wie viele alte Großmütter sind auf den Straßen zu sehen, würdevoll gekleidet und mit korrekter Haltung. Stellen Sie sich vor, jemand würde ihr einen heißen Minirock zum Anziehen anbieten: Sie würde sich in ihrem Frauenstolz beleidigt fühlen. Beachten Sie jedoch die erfreute Enkelin, die sie begleitet; trägt genau den Minirock, den die Oma abgelehnt hätte!

     Nein, in dieser modernen Welt habe ich nichts zu loben. Die wenigen und schwachen Qualitäten, die darin existieren, überleben als Spuren eines traditionellen Erbes, das jeder so schnell wie möglich in sich selbst versteckt, erstickt, auslöscht.

     Das einzige, was in der modernen Welt gezeigt wird, ist das Gegenteil dieses Erbes.

     Und das – ich wiederhole – kann ich nicht loben.

* * *

     Aber inwiefern identifiziert sich die Welt, wie sie heute ist, also die heutige Welt, mit der modernen Welt?

     Mir scheint, so wie es jenseits des Eisernen Vorhangs eine verleumdete, unterdrückte und verfolgte Kirche des Schweigens gibt, gibt es auch auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs eine riesige geistige Familie von Schweigenden, die, beiseite geschoben, ignoriert, verachtet werden, die im Mittelmaß und im Dunkeln leben. Meistens schweigen diese Menschen, weil sie gehemmt werden durch den Einfallsreichtum der Moderne und die Angst vor Sarkasmus. Doch aus der Tiefe ihres Schweigens leisten sie den Impulsen der Moderne einen dezenten Widerstand. Ja, sie befolgen seine Anordnungen, aber im Schneckentempo.

     Die Führer der Moderne geben fast immer vor, diese sehr breite teilnahmslose Fraktion nicht zu bemerken. Aber sie spüren sie bis zu dem Punkt, an dem sie gezwungen sind, nicht zu rennen, weil sie wissen, dass sie in der öffentlichen Meinung nicht mehr Fuß fassen würden, wenn sie zu stark beschleunigen würden.

     Gerade bei den Schweigenden, die die „moderne Welt“ enttäuschen und plagen, finde ich etwas was ich applaudieren kann.

* * *

     Ich zitiere eine typische Tatsache über die Bedeutung dieser „Schweigenden“ im Westen.

     Die bekannte spanische Zeitschrift „Sábado Gráfico“ veröffentlichte am vergangenen 2. Juli eine merkwürdige Enthüllung. „D. Helder Câmara, Erzbischof von Recife, verteilte ein Dokument mit dem Titel „Lateinamerika und die Option der Gewaltlosigkeit“ an alle iberoamerikanischen prophetischen Bewegungen. Darin erkennt der Prälat folgende Tatsachen klar an:

     a) Die Guerillabewegung ist gescheitert. Es ist sehr unangebracht, heute einen bewaffneten Befreiungsversuch zu unternehmen;

     b) Die Mehrheit der Volksmassen ist unempfindlich gegen das Predigen revolutionärer Doktrinen.

     Letztendlich steht die moderne Revolution still.

     Warum steht sie still? Wenn all die oberflächlichen Aspekte der Existenz uns glauben machen, dass sie sich bewegt? Offensichtlich liegt es größtenteils an der sanften Aktion unzähliger stiller Menschen, denen die Moderne von außen nach innen Eigenschaften auferlegt, die sie von innen nach außen ablehnen.

     Schauen wir uns Chile an. Laut den Zeitungen dieses Landes betrachteten prominente Unterstützer kurz vor dem Sturz der Regierung der Unidade Popular (Volkseinheit) als einen der Gründe für das Scheitern, das Allende umgab, den Mangel an Mystik in den Reihen der regierungstreuen Arbeiter. Trotz aller ideologischen Bemühungen der Marxisten fehlte es also an der Basis an Enthusiasmus.

     Viel bedeutsamer war, was in der Opposition geschah. Als das Militär Allende stürzte, behauptete es, dies unter dem Druck des Volkswillens getan zu haben. Und niemand zweifelte daran. Der Beweis dieses Willens wurde durch die gewaltigen Anti-Allende-Demonstrationen erbracht, bei denen die kühnsten Elemente nicht die Reichen waren, sondern die Arbeiter der Kupferminen von El Teniente, die Landarbeiter, die sich mit den Waffen in der Hand erhoben zu Gunsten ihrer Chefs, den „Camioneros“ (Lastwagenfahrer) aus dem ganzen Land. Was waren all diese Leute, bevor Allende sie aus dem Ernst herausholte? Schweigende...

     In diesem Sinne zeigte mir ein herausragender Direktor der chilenischen TFP, Herr Fernando Larrain, dem das Land, das er in Curacavi besaß, enteignet wurde, einen Brief, den ihm ein ehemaliger Kolonist geschickt hatte, der nostalgisch für das patriarchalische Regime der ehemaligen Bosse war. Es ist ein Dokument mit Blitzen, die gut in den Brief eines Chouan oder eines mexikanischen Cristero unseres Jahrhunderts passen würden.

     Diese Schweigenden sind die große Kraft des gesunden Geistes und der gesunden Moral in der heutigen Welt.

     Diese begrüße ich als positive Elemente. Als kostbare Antithese zur modernen Welt, der ich mich kategorisch verweigere.

 

Aus dem Portugiesischen mit Hilfe von Google-Übersetzer von „Elogio aos silenciosos do Ocidente“ in „Folha de S. Paulo“,  vom 7. Oktober 1973.

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Diese deutsche Fassung „Lob für die Schweigenden des Westens“ erschien erstmals in www.p-c-o.blogspot.com

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