Dienstag, 19. Juli 2022

Nächstenliebe und Dummheit




Plinio Corrêa de Oliveira

      In meinem letzten Artikel habe ich die unnachgiebige Haltung des Heiligen Vaters Pius XI. gegenüber drei sehr wichtigen zeitgenössischen ideologischen Strömungen aufgezeigt, die der Kirche stillschweigend oder ausdrücklich ihre Unterstützung im Kampf gegen gemeinsame Feinde anboten, und ich habe versucht, die Gründe für diese Unnachgiebigkeit zu erklären. Eine solche Erklärung ist im Übrigen für ein gutes Verständnis des Pontifikats von Pius XI. unerlässlich, da sie in offensichtlichem Widerspruch zu anderen Haltungen des großen Papstes steht. Wie ist es nämlich zu erklären, dass ein so weitsichtiger Mann wie Pius XI., der sich bereit erklärte, sich mit dem Teufel selbst zu verbünden, wenn er es für absurd hielt, dass der Teufel ihm einen nützlichen Beitrag zur Sache des Guten leisten könnte, solche Bündnisse wie die der Action Française, des Nationalsozialismus und der Anhänger der „politique de la main tendue“ ablehnte? Wenn einerseits unbestreitbare Hindernisse die Kirche von einer dieser Strömungen trennten, so lässt sich doch nicht leugnen, dass es zwischen ihr und jeder der drei Strömungen eine breite Linie gemeinsamer Interessen gab. Pius XI. appellierte an alle Menschen, gleich welcher Religion oder welchen Landes, sich zu vereinen, um die Zivilisation vor dem kommunistischen Atheismus zu retten, auch wenn diese Religionen oder Länder in vielerlei Hinsicht in tiefster Feindschaft zueinander stehen. In dem Augenblick, in dem sich die Möglichkeit einer solchen konkreten, außerdoktrinären Zusammenarbeit in einem positiveren Licht darstellte, scheint der Papst in diametralem Gegensatz zu seinem eigenen Rat gehandelt zu haben, indem er jede Verbindung oder Koalition mit diesen Kräften ablehnte. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären?

* * *

      Die Erklärung ist nicht einfach. Um die Haltung von Pius XI. zu verstehen, muss man mit gewissen Unwägbarkeiten spielen, deren richtige Wahrnehmung und Bewertung nur derjenige vornehmen kann, der dafür besondere Antennen hat. Gerade deshalb werden diejenigen, die nicht über diese Antennen verfügen, die sozusagen einen sechsten Sinn im Bereich der Intelligenz darstellen, kaum in der Lage sein, die konkrete Situation wahrzunehmen, in der sich der Papst befand und die sein Verhalten erklärt. Außerdem ist das Verständnis dieser Situation nicht nur ein Problem der Kirchengeschichte. Sie ist eng mit den konkreten Umständen des individuellen Apostolats eines jeden von uns verbunden. Und aus diesem Grund verdient sie von unserer Seite eine ernsthafte Anstrengung der Aufmerksamkeit.

      Der Fall des Nationalsozialismus ist der schmerzhafteste von allen. Diese Strömung entstand in Deutschland, als der Liberalismus auf dem Höhepunkt seiner schädlichen Wirkung war. Der Liberalismus, der die Intelligenz durch das langsame Wirken des ihm innewohnenden Skeptizismus zersetzt, die Sitten durch die von ihm gepredigte verbrecherische Toleranz verdirbt und das politische, wirtschaftliche und soziale Leben durch die Anarchie, die er unweigerlich mit sich bringt, desorganisiert, hat Deutschland an die Pforten des völligen Ruins geführt. Die tiefen Beweggründe der Krise klar erkennend, neigten sich viele bedeutende Geister dem Katholizismus zu, in dem sie den einzigen rettenden Leitstern sahen. Was die Massen anbelangt, so haben sie sich, endlich geleitet von jener sicheren Wahrnehmung der Realitäten, die sie manchmal besitzen, ebenfalls weitgehend in katholische Vereinigungen eingereiht, mit offenkundigen Vorurteilen gegenüber dem Protestantismus und dem Sozialismus. Einerseits profitierte der Katholizismus sehr von dieser Situation, da sie eine indirekte Apologetik für die von der Kirche verkündeten Wahrheiten darstellte. Auf der anderen Seite wuchs aber auch die kommunistische Gefahr. Aber die Katholiken, die auf politischem und sozialem Gebiet nach den Vorschriften Leos XIII. stark organisiert waren, fürchteten sich nicht vor der roten Lawine, denn sie waren sich sicher, dass sie der Gefahr Einhalt gebieten konnten, so wie es die unbesiegten Katholiken der unglücklichen Ostmark unserer Tage in Österreich, nur zwei Schritte von Deutschland entfernt, getan hatten. Die Situation in Deutschland war also offenkundig günstig für eine religiöse Restauration, die automatisch eine wirtschaftliche und soziale Restauration nach sich ziehen würde.

      Angesichts des Zustroms von Sympathisanten, die auf der Suche nach Wahrheit und Einheit aus allen intellektuellen Richtungen in die Kirche strömten, nahmen die Katholiken eine barmherzige und verständnisvolle Haltung ein, die den Zugang der verlorenen Schafe zu dem einen Schafstall Jesu Christi erheblich erleichterte. Und so erahnten inmitten der Stürme und der Wirtschaftskrisen zahlreiche Lichtblicke die Rettung Deutschlands in naher Zukunft.

      Dann erschien Hitler. Er rekrutierte in seinen Reihen zahllose Persönlichkeiten aller intellektuellen Richtungen, die sich dank eines von Niederlagen und Schmerzen verwundeten Patriotismus untereinander einig waren, und hielt ebenfalls ein antikommunistisches und antiliberales Banner hoch, das die Massen begeisterte. Mit einer vernichtenden Kritik an der deutschen Situation, die in ihren besten Passagen nichts anderes ist als die Anwendung katholischer Prinzipien, von denen er vorgibt zu abstrahieren, zeigt Hitler eine große Affinität zum Denken der Kirche. War also eine weitere Strömung von Sympathisanten auf dem Weg zum Katholizismus? Viele unter den Katholiken glaubten das. Und um diese Affinität in volle Solidarität umzuwandeln, haben sie die Zugeständnisse an den Nationalsozialismus bis an ihre Grenzen getrieben.

      Hitler war jedoch kein echter Sympathisant. Das, was seine Strömung präsentierte, war total schlecht; schlecht in dem, in was sie von der Kirche abwich, und schlecht auch - das Paradoxon ist gerecht und wir werden es weiter unten erklären - in dem, in was sie ihr ähnlich war.

      Durch seine Berührungspunkte mit der Kirche erzielte Hitler folgende sehr schlechte Auswirkungen:

      1) Er lenkte die Sympathien, die von Natur aus auf die Kirche gerichtet waren, auf sich selbst um; vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus wurde es immer offensichtlicher, dass das einzige Mittel gegen Anarchie und Kommunismus der Katholizismus war: nach dem Nationalsozialismus wurde der Katholizismus als „eine“ der möglichen Lösungen angesehen, nicht jedoch als „die“ Lösung schlechthin;

      2) Es ist leicht zu verstehen, dass der Nationalsozialismus, der eine ähnliche Sprache wie die Kirche sprach, leichter Sympathien gewann als die Kirche. Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche setzt eine tiefe innere Umwälzung voraus, die nicht vollzogen werden kann, ohne geistige Schmerzen, die oft unerträglich sind, und intime Opfer zu bringen, deren Preis den des Verzichts auf die wertvollsten materiellen Güter bei weitem übersteigt. Für die Seelen, die angeekelt waren von der liberalen Verwesung, massenhaft zum Katholizismus emigrierten, bot der Nationalsozialismus eine intellektuelle Unterkunft auf halber Höhe, viel weniger hoch und viel weniger schwer zu erreichen war. Es fehlte nicht an denen, die davon ausgingen, dass dieses Gasthaus zu späteren Höhenflügen ermutigen könnte. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass dies nicht der Fall war. Die Geister, die von der Landung der Nazis erfasst wurden, ließen sich von der gewalttätigen Propaganda, dem Wirken schädlicher Prinzipien und vor allem der Verherrlichung des Nationalismus ließen sich hinweg in einen tieferen Abgrund treiben, als der, den sie zu vermeiden suchten.

      3) In der Tat erschien der Nationalsozialismus von Anfang an wie eine echte Zauberkiste, deren Inhalt ganz anders war, als sein Aussehen vermuten ließ. Hitler hat in „Mein Kampf“ zwei völlig unterschiedliche Teile geschaffen. Im ersten greift er den Liberalismus heftig an, und zwar mit wirklich außerordentlichem Erfolg; im zweiten versucht er, die Gesellschaft der Zukunft zu beschreiben, die auf nationalsozialistischen Grundlagen aufgebaut werden sollte. Die nationalsozialistische Propaganda nutzte im Allgemeinen nur den ersten Teil, um Sympathien zu gewinnen. Der zweite Teil kam später: Er wurde sorgfältig den ausgewähltesten Mitgliedern der Partei mit Geschick und einer Unredlichkeit verabreicht, die vollkommen identisch ist mit der, die die aufeinanderfolgenden Einweihungen der Freimaurerei kennzeichnet. Der Nationalsozialismus barg also eine große Falle. Und erst am Tag des Jüngsten Gerichts wird man erfahren, wie viele Seelen durch diese teuflische List gefangen und abgeschlachtet wurden.

      4) Schließlich waren nur wenige Katholiken scharfsinnig genug, um das satanische Manöver des Nationalsozialismus zu erkennen. Der Episkopat schlug natürlich Alarm. Aber unter den Katholiken selbst ging das ständige Bemühen, mit allen Mitteln Sympathien für die Kirche zu gewinnen, so weit, dass es zur Disziplinlosigkeit wurde. Dem Episkopat wurde offen vorgeworfen, unnachgiebig zu sein und mit dieser Unnachgiebigkeit den Übertritt der NSDAP zum Katholizismus zu kompromittieren. Es war notwendig, den Nationalsozialismus zu erobern. Und da bestimmte Leute nur mit Lächeln, kleinen Aufmerksamkeiten und Witzen zu erobern sind, gab es einen ganzen Sektor von Katholiken, die mit dem Nationalsozialismus zu „flirten“ begannen, nach „Chamberlain’scher“ Art. Für die Nazis hatten sie jede mögliche Toleranz. Aber der Höhepunkt ihrer akuten und virulenten Intoleranz galt den Katholiken - einschließlich dem Episkopat -, die nicht der gleichen Chamberlain’sche Orientierung folgten...

      Nachdem Hitler in der Katholischen Partei einige Judasse bestochen hatte - von Papen war einer von ihnen - konnte er diese internen Spaltungen unterhalten, sogar bis zu dem Punkt, dass er eine Spaltung unter den Katholiken provozierte, auf dessen Kosten er die Macht ergriff.

      Hitler, der sich damit nicht zufrieden gab, wollte sich immer noch als Vorkämpfer der Christenheit gegen den Kommunismus aufspielen. Und während er die deutschen Katholiken unerbittlich mit den Füßen trat, präsentierte er der ganzen Welt mit seinen Händen einige Trophäen, die er (?) den Kommunisten entrissen hatte. Und mit diesen Trophäen suchte er die Unterstützung der Katholiken in aller Welt - mit dem Papst an der Spitze - für die Sache des Nazismus.

      Konnte Pius XI. eine solche Zusammenarbeit akzeptieren? Offensichtlich nicht. Denn dies war keine Kollaboration, sondern Verrat. Ein Verrat, der der Epoche, in der wir leben, angemessen ist, einer Epoche, die, wie Pius XI. mit Blick auf die Situation in Deutschland sagte, gleichzeitig an die Grausamkeiten der Zeit Neros und an den schändlichen Verrat aus der Zeit Julians des Apostaten erinnert.

      Mit verlorenen Söhnen, die außerhalb des väterlichen Hauses seufzen, gibt es mögliche Zusammenarbeiten. Nicht aber mit Verrätern. Nächstenliebe und Dummheit sind sehr unterschiedliche Dinge.

      Wir werden im nächsten Artikel sehen, was mit der Action Française und der politique de la main tendue geschah.

 

 

Aus dem Portugiesischen übersetzt mit DeepL-Übersetzer (kostenlose Version) von „Caridade e tolice“ in O “Legionário”  n.º 348, 14. Mai 1939.

Diese deutsche Fassung „Nächstenliebe und Dummheit“ erschien erstmals in  www.p-c-o.blogspot.com

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