Anlässlich des siebzigsten Geburtstags von Prof. Plinio Corrêa de Oliveira - am 13. Dezember 1978 - veröffentlichte die in Piacenza ansässige Zeitschrift für katholische Kultur „Cristianità“ eine Sammlung einiger seiner Aufsätze zu dem stets aktuellen Thema der Soziallehre der Kirche. Wir reproduzieren sie hier in vier Teilen, und sind sicher etwas Erfreuliches zu tun.
Einführung von „Cristianità“
Das Datum ist sicherlich ein Gedenken wert, und sei es nur, um dem bekannten brasilianischen katholischen Denker alles Gute zu wünschen. Aber er hat einen größeren Anspruch auf Gedenken und Erinnerung als ein anderer Jahrestag, der ebenfalls im vergangenen September begangen wurde, nämlich der 50. Jahrestag vom Beginn seines Apostolats. So viele Jahre sind vergangen, seit Plinio Corrêa de Oliveira 1928 am Kongress der katholischen Jugend in São Paulo teilnahm, der vom 9. bis 16. September stattfand. Von da an bis heute hat er sein Leben ununterbrochen und vollständig in den Dienst der heiligen Kirche und der christlichen Zivilisation gestellt.
Um die beiden Jahrestage
würdig zu begehen, veröffentlichen wir unter einem redaktionellen Gesamttitel
eine Reihe von vier Artikeln, die eine Ansprache von Papst Pius XII.
kommentieren. Sie erschienen in Catolicismo
- der angesehenen brasilianischen katholischen Kulturzeitschrift, Jahrgang I, Nr. 8, August
1951; Nr. 9, September 1951; Nr. 11, November 1951; Nr. 12, Dezember 1951. Ihre Originaltitel lauten jeweils: O
culto cego do numero na sociedade contemporanea, O mecanicismo revolucionario e
o culto do numero, A sociedade cristã e orgânica e a sociedade mecânica e pagã,
A estrutura supra-nacional no ensinamento de Pio XII.
Die Texte werden in ihrer Gesamtheit wiedergegeben, ohne jegliche Überarbeitung, auch nicht in ihren Verweisen auf kontingente Ereignisse, um unter anderem den Charakter und den Geschmack des konterrevolutionären Lehramtes von Professor Plinio Corrêa de Oliveira zu bewahren, eines Lehramtes, das vor allem durch konkrete Interventionen ausgeübt wird und das vor allem auf Probleme reagieren will, die auch historisch real sind.
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DER BLINDE KULT DER ZAHL IN DER HEUTIGEN
GESELLSCHAFT
Diese Zeitschrift veröffentlicht heute die Ansprache des Heiligen Vaters Pius XII. an die Leiter der Weltweiten Bewegung für eine Weltkonföderation. Dieses Dokument enthält in seiner Prägnanz Aussagen und Lehren, die geeignet sind, die Katholiken in einer Frage von höchster Aktualität zu orientieren. Daher möchten wir in diesem Artikel einige Passagen der Ansprache erläutern.
Eine bestimmte, heute weit verbreitete Mentalität, die man vielleicht als „optimistischen Demokratismus“ bezeichnen könnte, sieht eine ideale Strukturierung der zukünftigen Welt folgendermaßen:
a. politische Verfassungen, die die Wählbarkeit und die Zeitgebundenheit der legislativen und exekutiven Funktionen, den lebenslangen Charakter, die Unbeweglichkeit und die Unabsetzbarkeit der Einkünfte der Mitglieder der Judikative gewährleisten. Dies wird die volle Gleichheit aller Bürger, die Allmacht der öffentlichen Meinung und die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten;
b. als Ergänzung zu diesen Maßnahmen die geheime Wahl und das allgemeine und direkte Wahlrecht. Der Wähler wird nicht dem Druck der Mächtigen ausgesetzt sein und kann eine absolut freie Stimme in die Wahlurne werfen, die der getreue Ausdruck seiner Weisheit und seines Patriotismus ist. Die Wahlfunktion wird nicht einer kleinen Minderheit von Aristokraten, Plutokraten oder Intellektuellen vorbehalten sein, sondern der gesamten Masse der ehrenwerten und arbeitenden Menschen gehören. Auf diese Weise wird sich die Nation selbst regieren, ohne Gefahr zu laufen, dass die öffentlichen Angelegenheiten kleinen Gruppen geopfert werden, deren Interessen dem Gemeinwohl zuwiderlaufen;
c. da die Regierung letztlich von der Masse abhängt und diese der wahre Souverän ist, wird das Ideal der menschlichen Freiheit gewährleistet. Ein souveränes Volk ist notwendigerweise frei, denn es gibt keinen umfassenderen Ausdruck von Freiheit als die Souveränität, d. h. die höchste Macht, zu tun, was man will. Bei der rein mathematischen Auszählung der Stimmen hingegen wird das Ideal der menschlichen Gleichheit triumphieren. Kein Privileg verleiht dem Wahlrecht des einen Bürgers mehr Gewicht als dem eines anderen. Alle werden gleichermaßen in der Lage sein, die Geschicke des Vaterlandes zu beeinflussen, gleich an Rechten und Pflichten, sowie an Liebe und Sorge für die Interessen des Landes;
d. ein System, das so geeignet ist, das gesellschaftliche Leben zu harmonisieren und zu regeln, muss zwangsläufig die besten Wirkungen entfalten, wenn es auf das internationale Leben angewendet wird. Jede Nation würde für ein weltweites Superparlament eine Vertretung benennen, die proportional zur Zahl ihrer Einwohner ist. Die Mitglieder des Superparlaments würden in geheimer und direkter Abstimmung den Präsidenten der Weltrepublik wählen. Die Inhaber der universellen richterlichen Gewalt würden ernannt, möglicherweise durch einen gemeinsamen Akt des Präsidenten der Weltrepublik und des Superparlaments. Die Nationen wären in demselben Sinne und in demselben Maße frei und gleichberechtigt, wie es die Individuen in der internen demokratischen Struktur eines jeden Volkes wären.
Wenn Freiheit und Gleichheit auf diese Weise gesichert wären, würden Kämpfe verschwinden, denn der Mensch kämpft nur, wenn er unterdrückt oder durch eine Ungleichheit gedemütigt wird. Die Brüderlichkeit würde sich zwangsläufig aus der Verbindung zweier so weiser und heiliger Prinzipien ergeben. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ist das nicht der Traum der Welt seit der Französischen Revolution? Fassen diese Worte nicht alle Bestrebungen einer Menschheit zusammen, die darauf bedacht ist, endlich endgültigen Frieden und Wohlstand zu finden? Sind dies nicht die Mittel, auf die die Menschen seit mehr als hundertfünfzig Jahren ihr ganzes Vertrauen setzen, um ihre Ideale von Glück und Würde zu verwirklichen? Sollten wir dann nicht erkennen, dass wir vor der Lösung der Probleme der heutigen Welt stehen?
Wahrscheinlich werden viele Leser in dieser Formulierung von Grundsätzen genau den Ausdruck ihrer Mentalität finden. Vielleicht werden die meisten nicht Punkt für Punkt so denken, aber sie werden in dem Gesagten die allgemeine Linie ihres Denkens erkennen. Andere werden mit enttäuschter Skepsis lächeln. Und schließlich wird es nicht an denen mangeln, die entschieden widersprechen. Und die Kirche?
Die vier großen modernen Dogmen
Fangen wir an, zu unterscheiden. In der Reihe von Grundsätzen, öffentlichen Einrichtungen und Bestrebungen, die wir soeben beschrieben haben, gibt es vier dominierende Noten, die wie folgt formuliert werden können:
a. die Vorstellung, dass die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, nur durch das Volk, den einzigen echten Souverän, von dem alle Macht ausgeht, legitim ausgeübt werden kann;
b. die Vorstellung, dass das Volk, das als einziges an den Geschicken des Staates und vielleicht des weltweiten Superstaates interessiert ist, selbst am kompetentesten ist, die öffentlichen Angelegenheiten zu lenken;
c. dass das repräsentative System, das (in seiner umfassendsten und echtesten Ausprägung) aus dem allgemeinen Wahlrecht und der Einsetzung der vom Volk Gewählten in alle Führungspositionen besteht, die Manifestation eines authentischen Volkswillens und die getreue Ausführung all dessen, was er wünscht, gewährleistet;
d. dass die internationale Ordnung die Schaffung einer weltweiten Superregierung erfordert, und zwar aus denselben Gründen, die die Notwendigkeit des Staates zur Aufrechterhaltung der Ordnung unter den Individuen belegen.
Es ist leicht zu erkennen, dass dies die vier Punkte sind, in denen sich das gesamte politische Denken der Französischen Revolution verdichtet, und dass sie wie die vier Dogmen sind, auf denen die heutige Gesellschaft aufgebaut ist. Sogar in bestimmten politischen Ideologien von heute, die scheinbar in großem Gegensatz zur Französischen Revolution stehen, wie dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, die so zutiefst antiliberal sind, ist der Einfluss dieses Denkens leicht zu erkennen. Sowohl der braune als auch der rote Diktator stützten oder stützen ihre gesamte Macht, zumindest theoretisch, auf Monster-Plebiszite, die im Namen des souveränen und allmächtigen Volkes die Handlungen des Staatsoberhauptes ratifizieren.
Die Frage, welche Position die Kirche angesichts dieser vier großen Dogmen der heutigen Gesellschaft einnimmt, bedeutet zu einem großen Teil, die Position der Kirche angesichts der heutigen Welt zu definieren. Die Untersuchung eines so heiklen Themas kann nur durch eine Analyse jedes dieser „Dogmen“ im Lichte der katholischen Lehre erfolgen.
Die Regierung des Volkes
Ziel dieses Artikels ist es, die Lehren von Pius XII. zu dem von uns behandelten Thema genauer zu untersuchen. Wir werden daher in aller Kürze die Position der Kirche gegenüber dem Dogma der Volkssouveränität skizzieren, die durch die aufeinanderfolgenden päpstlichen Dokumente von Pius VI. bis Pius XI. erschöpfend dargestellt wird.
Die Kirche hat immer gelehrt, dass die Macht nicht von den Menschen, sondern von Gott ausgeht; Gott hat die menschliche Natur so geschaffen, dass die Menschen notwendigerweise eine Regierung haben müssen. Da Gott allmächtig ist, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, uns zu erschaffen, ohne dass wir jemanden über uns brauchen, der uns regiert. Gott hat uns durch einen freien und weisen Akt seines Willens so geschaffen, wie wir sind. Aufgrund dieses schönen Willens gibt es also Regierungen auf der Erde, denen die Menschen Gehorsam schulden. Diejenigen, die öffentliche Macht ausüben, tun dies also nicht aufgrund der Autorität des Volkes, sondern aufgrund der Autorität Gottes.
Dies hat sehr wichtige praktische Konsequenzen. Die erste ist, dass nach katholischer Auffassung die Herrscher zum Befehlen und die Untertanen zum Gehorchen berufen sind. Andernfalls, wenn das Volk souverän wäre, müsste der Herrscher nur dem Willen des Volkes gehorchen. Eine weitere wichtige Folge ist, dass es nach der katholischen Lehre völlig normal ist, dass die Macht von einem Monarchen oder einer Aristokratie ausgeübt wird. Im Gegenteil, die Befürworter der Volkssouveränität sind natürlich geneigt, die Demokratie als einzige Regierungsform zu akzeptieren, in der das Volk durch seine Stimme bestimmt, wer die Regierung ausüben soll.
Es bleibt abzuwarten, ob die Kirche, die die Doktrin der Volkssouveränität ablehnt, auch die demokratische Republik verurteilt, d.h. die Regierungsform, in der der oberste Magistrat der Nation vom Volk gewählt wird.
Da es in unserer Natur liegt, dass wir in der Kindheit unwissend sind, brauchen wir diejenigen, die uns lehren. Daher ist es Gottes Wille, dass es solche gibt, die lehren, und dass die leitende Autorität über die Jüngeren nicht von diesen kommt, sondern von Gott selbst. Es ist jedoch absolut sicher, dass Gott, der gewollt hat, dass es solche gibt, die lehren, es dem Urteil der Menschen überlassen hat, die Art und Weise der Ernennung derjenigen zu wählen, deren Aufgabe es ist, zu lehren. Daher ist es ebenso zulässig, dass der Lehrer durch freie Ernennung, durch ein Auswahlverfahren oder durch Beförderung aufgrund des Dienstalters ausgewählt wird. Es liegt an den Menschen, je nach den Umständen der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes eine dieser Formen zu wählen. Dasselbe gilt für die Regierung: Sie besteht durch den Willen Gottes, aber die Art der Wahl des obersten Richters kann je nach den Umständen variieren und in einigen Ländern lebenslang und erblich, in anderen zeitlich begrenzt und wählbar sein. Wenn wir also mit Republik oder im weiteren Sinne mit Demokratie die einfache Tatsache meinen, dass die oberste Magistratur durch Volkswahl besetzt werden kann, so steht dies nach der ausdrücklichen Lehre von Leo XIII. keineswegs im Widerspruch zur katholischen Lehre.
Diese Lehre - darauf bestehen wir, um eine gefährliche und weit verbreitete Verwirrung zu vermeiden - ist jedoch mit zwei wichtigen Vorbehalten verbunden. Auch in einer Republik ist der oberste Magistrat kein Sklave des Volkswillens, sondern ein echter Herrscher. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass die Demokratie nicht von der Kirche bevorzugt oder aufgezwungen wird, im Gegensatz zu dem, was ein gängiges Vorurteil uns glauben machen will. Nach diesem Vorurteil predigt das Evangelium politische Gleichheit, so dass jede Ungleichheit gegen den Geist der Demut und Sanftmut verstoßen würde, der der Lehre unseres Herrn Jesus Christus innewohnt. Monarchie und Aristokratie, die auf Ungleichheit beruhen, würden daher dem Geist des Evangeliums widersprechen.
Nichts könnte falscher sein! Demut führt dazu, dass man will, dass jeder an seinem Platz ist, und nicht, dass jeder seinen Platz verliert. Wenn es also Reiche und Arme, Adlige und Bürgerliche, Gebildete und Ungebildete gibt, muss die Demut den Christen dazu führen, dass er will, dass jeder so behandelt wird, wie er ist, und dass er einen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten hat, der seinen Verdiensten und seinem Rang entspricht.
Es ist legitim, dass sich ein Volk demokratisch organisiert. Aber es ist nicht legitim, dass sie andere Regierungsformen als ungerecht, rückschrittlich oder falsch ansieht; dass sie versucht, ihre eigene Regierungsform unter dem Vorwand des Fortschritts oder der Zivilisation anderen aufzuzwingen; oder dass sie aus einer zerebralen und theoretischen Liebe zum Demokratismus eine Revolution wie die von 1789 anzettelt, die erworbene Rechte verletzt, die gesamte historische Entwicklung einer Zivilisation abrupt verändert und sogar ihre Institutionen und ihr Leben zerstört, um alles auf eine neue Ordnung der Dinge zu reduzieren.
In Bezug auf alles, was im ersten Grundsatz enthalten ist, kommen wir also zu dem Schluss, dass die Kirche nur dies akzeptiert: Die Republik ist eine rechtmäßige Regierungsform.
Als Leo XIII. Ende des 19. Jahrhunderts diesen Punkt definierte, erregte er Aufsehen. Es fehlte nicht an denen, die dem großen Papst vorwarfen, mit den triumphalen Prinzipien der Französischen Revolution aus Opportunismus zu feilschen. Ein einfaches Studium der politischen Organisationen, die im Mittelalter mit voller Zustimmung der Kirche existierten, würde zeigen, dass das katholische Denken schon lange vor der Revolution in diesem Sinne definiert war. In einigen schweizerischen, deutschen und italienischen Gemeinden des Mittelalters wurde die Regierung von Personen ausgeübt, die vom Volk gewählt wurden, ohne dass jemand darin einen Verstoß gegen die katholische Lehre zu sehen glaubte. Das Aufsehen, das die Lehre Leos XIII. erregte, war darauf zurückzuführen, dass sein Denken nicht gut verstanden wurde. Wer sich mit dem Thema befassen möchte, findet in den Dokumenten von Pius XII. brillante Anweisungen, um sich über das Thema vollkommen klar zu werden.
Die Unfehlbarkeit der Wählerschaft
Untersuchen wir das Dogma der Unfehlbarkeit des Volkes. Was hält die Kirche davon? Wenn wir sie wörtlich verstehen wollen, kann die Antwort nur negativ ausfallen. Nach der Erbsünde sind alle Menschen dem Irrtum unterworfen. Nur das Lehramt der Kirche besitzt das Privileg der Unfehlbarkeit. Dieses Privileg beruht jedoch ausschließlich auf dem von Jesus Christus versprochenen göttlichen Beistand. Da Christus dem Volk keine Unfehlbarkeit versprochen hat, ist es klar, dass das allgemeine Wahlrecht fehlbar ist. Ein konsequenter Katholik kann über die Naivität derjenigen nur lächeln, die sich einbilden, dass die Institution des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts allein durch die Tatsache, dass sie die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten der Weisheit des Volkes anvertraut, automatisch die Weisheit aller Lösungen für Probleme des Gemeinwohls garantiert.
Mutatis mutandis (mit den notwendigen Abänderungen) brauchen wir hier nur zu wiederholen, was wir bereits über das vorherige Dogma gesagt haben. Von den drei Regierungsformen - Monarchie, Aristokratie, Demokratie - führt keine, für sich betrachtet, notwendigerweise zur Wahrheit oder notwendigerweise zum Irrtum. Der mehr oder weniger große Spielraum für die „Fehlbarkeit“ jeder Regierungsform variiert je nach den Umständen der Zeit, des Ortes, des Charakters, der Traditionen und der Kultur, die jedem Land eigen sind.
Daher müssen wir untersuchen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Regierung durch das Volk zu genauen Lösungen für nationale Probleme führt.
Volk und Masse
Mehrere dieser Bedingungen sollten in Erinnerung gerufen werden. Die wichtigste davon ist, dass das Volk wirklich Volk sein sollte und keine Masse. In der Tat ist die Demokratie eine Regierung des Volkes und nicht eine Regierung der Masse.
In dieser Hinsicht hat Pius XII. in seiner Weihnachtsbotschaft von 1944 eine Unterscheidung getroffen, die man ohne Übertreibung als genial bezeichnen kann und die der katholischen Soziologie einen ganz neuen Horizont eröffnet: »„Volk“ und die gestaltlose Menge oder, wie man sagt, die „Masse“ sind zwei verschiedene Begriffe. Volk lebt und bewegt sich durch Eigenleben; Masse ist von sich aus träge und kann nur von außen her bewegt werden. Das Volk lebt aus der Lebensfülle der Menschen, aus denen es sich zusammensetzt und deren jeder einzelne — an seinem Posten und in seiner Art — eine der eigenen Verantwortung und der eigenen Überzeugung sich bewusste Person ist. Die Massen hingegen erwartet den Antrieb von außen, sie wird leicht zum Spielball in der Hand eine jeden, der ihre Naturtriebe oder ihre Beindruckbarkeit auszunutzen versteht; sie ist bereit, wie es gerade kommt, heute diesem, morgen jenem Banner zu folgen. Aus der Lebensfülle eines echten Volkes ergießt sich das Leben, überfließend und reich, in den Staat und alle seine Organe und flößt ihnen, in unaufhörlicher erneuter Kraft, das Bewusstsein eigener Verantwortlichkeit und wahres Verständnis für das Gemeinwohl ein“« (1).
So ist das erste Element, das das Volk von der Masse unterscheidet, die Tatsache, dass das Volk eine menschliche Gemeinschaft genannt wird, in der alle Menschen Prinzipien, Überzeugungen, eine eigene Bewegung, eine klare Vorstellung von ihren Rechten und Pflichten haben, während die Masse, die aus Menschen ohne Ideen, Prinzipien, moralische Ausbildung und ohne eigene Initiative besteht, die Einbildung als einzige Norm hat, die ihre Glieder in die eine oder andere Richtung zieht, je nach dem Atem der Partei- oder Regierungsdemagogie.
Pius XII. erinnert dann an eine weitere Unterscheidung zwischen Volk und Masse: „In einem Volke, das dieses Namens würdig ist, fühlt der Bürger in sich selbst das Bewusstsein seiner Persönlichkeit, seiner Pflichten und seiner Rechte, seiner eigenen Freiheit verbunden mit der Achtung vor der Freiheit und Würde der andern. In einem Volke, das dieses Namens würdig ist, bilden alle die Ungleichheiten, die nicht von der Willkür, sondern eben von der Natur der Dinge, von der Ungleichheit der Bildung, des Besitzes, der gesellschaftlichen Stellung herrühren — wohlgemerkt ohne Nachteil für Gerechtigkeit und wechselseitige Liebe — durchaus kein Hindernis gegen das Bestehen und Überwiegen echten Geistes der Gemeinschaft und Brüderlichkeit. Im Gegenteil, weit entfernt, die bürgerliche Gleichberechtigung irgendwie zu verletzen, verleihen sie ihr ihren wahren Sinn, daß nämlich jeder dem Staate gegenüber das Recht hat, in Ehren sein persönliches Eigenleben zu führen an dem Posten und unter den Bedingungen, in die ihn die Fügung und Führung der göttlichen Vorsehung gestellt hat.“ (2) (3)
Volk und Pöbel
Dieser letzte Punkt muss hervorgehoben werden. Das Volk ist nicht nur der Pöbel und auch nicht nur die Mehrheit: Es ist die gesamte Bevölkerung. Gerechte Gleichheit ist nicht diejenige, die die Oberschicht beseitigt, indem sie sie in die Unterschicht auflöst, sondern diejenige, die die Existenz aller sozialen Klassen respektiert, indem sie jedem das Recht zusichert, sein Leben ehrenhaft zu leben. Und das bedeutet nicht, dass man dem Pöbel das Recht einräumt, wie Adlige zu leben, den Arbeitern das Recht, wie die Bourgeoisie zu leben, den Analphabeten das Recht, wie Gebildete zu leben: Jeder hat zwar das Recht auf ein ehrenvolles Leben, das sich von den herabgekommenen Lebensbedingungen eines Teils der heutigen Arbeiterklasse unterscheidet, aber ohne über die Bedingungen hinauszugehen, in die ihn die Pläne und Bestimmungen der Vorsehung gestellt haben.
Das Volk ist also in der Sprache der Kirche nicht die Mehrheit, auch nicht die bescheidenste Klasse, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung eines Landes, soweit sie psychologisch mit einer starken individuellen und kollektiven Persönlichkeit ausgestattet ist: mit einem Eigenleben, das den Staat belebt, anstatt sich von ihm ersticken zu lassen; mit einer wirklichen Differenzierung der sozialen Kategorien, die alle mit einem eigenen Lebens- und Kulturmodell ausgestattet sind, aber so, dass keines dieser Modelle dem unterlegen ist, das der natürlichen Würde des Menschen entspricht.
Diese Anforderungen sind, wie wir sehen, das Gegenteil von dem, was sich die Revolutionäre von 1789 und ihre authentischen Nachfolger, die Sozialisten unserer Tage, von einer gleichförmigen und amorphen Gesellschaft erträumt haben. Ein solches "Volk", das organisch, hierarchisch und lebendig ist, kann sich zu einer Reihe von nationalen und insbesondere regionalen Fragen wirklich klug äußern. Niemals jedoch die Masse, die per Definition fast nur Fehler machen kann.
Masse und Wahlrecht
Wenden wir uns dem dritten „Dogma“ zu. Bringt das allgemeine Wahlrecht, das auf der numerischen Auszählung von Stimmen beruht, die alle gleich sind, den Willen des Volkes angemessen zum Ausdruck?
Das Volk ist eine organische, hierarchische Gesellschaft. Bringt das einfache numerische Volkswahlrecht den hierarchischen und organischen Charakter des Volkes zum Ausdruck oder verdeckt es ihn?
Die Antwort ist nicht schwer. Wenn alle gleich viel zu sagen haben und bei der Auszählung der Stimmen alle gleich viel zählen, wäre dieses System ideal für die Masse und würde kaum zu einem echten Volk passen.
Daraus folgt, dass das System, das der einfachen zahlenmäßigen Mehrheit der Bürger das Recht gibt, die Mehrheit in der Legislative zu bilden, die Exekutive nach Belieben zu lenken usw., sehr unwahrscheinlich ist, dass es das echte Volk repräsentiert.
Mit anderen Worten: Durch das allgemeine Wahlrecht ist es für das Volk sehr schwierig, die öffentlichen Angelegenheiten zu beeinflussen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der Rede von Pius XII., die in „Catolicismo“ heute veröffentlicht wird, zu lesen ist: „Überall wird heute das Leben der Völker durch die blinde Anbetung von Zahlenwerten zersetzt. Der Bürger ist ein Wähler. Aber als solcher ist er in Wirklichkeit nur eine der Einheiten, deren Gesamtheit eine Mehrheit oder eine Minderheit bildet, die durch eine Verschiebung von einigen wenigen Stimmen, und sei es nur eine, umgestoßen werden kann. Gegenüber den Parteien zählt er nur für seinen Wählerwert, für den Beitrag, den seine Stimme leistet: sein Platz und sein Amt in der Familie und im Beruf stehen nicht zur Debatte“ (3).
Eine Gesellschaft, die vom „blinden Kult des numerischen Wertes“ beherrscht wird, ist Masse, nicht Volk. Pius XII. sieht eine der charakteristischsten Erscheinungsformen dieser Herrschaft des numerischen Wertes gerade in einem Wahlsystem, das von allem abstrahiert, was der Wähler in der organischen Struktur des Volkes ist, um in ihm nur eine Zahl zu sehen, eine unpersönliche und anonyme Einheit, die in der Masse verloren geht. Es scheint uns, dass der Staat in einem solchen System nichts anderes ist als „eine amorphe Ansammlung von Individuen“, die „in sich selbst enthalten ist und sich [...] mechanisch auf einem bestimmten Territorium versammelt“, während er in Wirklichkeit „die organische und organisierende Einheit eines wahren Volkes“ sein sollte (4).
Neue Adressen
Was ist zu tun? Prüfen Sie natürlich die Möglichkeit einer Adressänderung: „Würde man es wagen, die heutigen Mittel und Methoden der Verwaltung und Politik nach all den vergangenen und gegenwärtigen Prüfungen als ausreichend zu beurteilen? In Wirklichkeit ist es unmöglich, das Problem der politischen Weltorganisation zu lösen, ohne manchmal zu akzeptieren, von den ausgetretenen Pfaden abzuweichen, ohne an die Erfahrung der Geschichte, an eine solide Sozialphilosophie und sogar an eine gewisse Intuition der schöpferischen Phantasie zu appellieren“, sagt Pius XII. in seiner Ansprache an die Mitglieder der Universellen Bewegung für einen Weltbund.
Aber in welche Richtung soll es gehen? Dieselbe Rede gibt uns in dieser Hinsicht wertvolle Hinweise positiver Art, die die Richtung der Zukunft in einer Abhängigkeit der politischen Institutionen und Sitten von der natürlichen organischen Ordnung aufzeigen.
In dieser Richtung wird die Lösung des Problems einer internationalen Weltstruktur zu finden sein. Und dies führt uns zur Untersuchung des vierten zeitgenössischen „Dogmas“. Wir werden diese beiden Punkte jedoch in einer anderen Ausgabe des Catolicismo behandeln.
Anmerkungen
(1) PIUs XII., Radiobotschaft an die ganze Welt, vom
24.12.1944, La pace interna delle nazioni, Insegnamenti pontifici a cura dei
monaci di Solesmes, Edizioni Paoline, 2. Aufl., Roma 1962, S. 478.
(2) PIUS XII., Radiobotschaft an die ganze Welt, vom 24.12.1944, La pace interna delle nazioni, Insegnamenti pontifici a cura dei monaci di Solesmes, Edizioni Paoline, 2. Aufl., Roma 1962, S. 479.
(3) PIO XII, Ansprache an die Kongresse der Universellen Bewegung für eine Weltkonföderation, 6.4.1951, in Discorsi per la comunità internazionale (1939-1956), Editrice Studium, Rom 1957, S. 386. Alle nachfolgenden Zitate im Text sind ohne Quellenangabe dieser Rede entnommen.
(4) „Der Staat enthält in sich selbst keine amorphe Ansammlung von Individuen und setzt sie nicht mechanisch in einem bestimmten Gebiet zusammen. Er ist und muss in Wirklichkeit die organische und organisierende Einheit eines wahren Volkes sein“ (PIO XII, Radiomessaggio al mondo intero, von 2412-1944. cit. D. 4781.
Aus dem Italienischen mit
Hilfe von Deepl-Übersetzer (kostenlose Version) von „Per un ordine cristiano nazionale
e sovranazionale“ in
https://www.atfp.it/biblioteca/saggi-di-plinio-correa-de-oliveira/709-per-un-ordine-cristiano-nazionale-e-sovranazionale
Diese
deutsche Fassung „Für eine nationale und übernationale Ordnung 1. Teil“ erschien
erstmals in www.p-c-o.blogspot.com
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Bildnachweis: Darstellung der „Neun guten Helden“ an der Südseite des Hansasaales im Kölner Rathaus. Von © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (über Wikimedia Commons).
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