von Plinio Correa de Oliveira
Das Evangelium deutet uns das Ideal der Vollkommenheit
an: «Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist» (Matth. 5, 48).
Diesen Rat zu verwirklichen, lehrt uns am besten unser Herr Jesus Christus
selber, der uns diesen Auftrag erteilt hat. Und in der Tat ist Jesus Christus,
das absolute Ebenbild der Vollkommenheit unseres himmlischen Vaters, für uns
das höchste Vorbild, das wir nachahmen müssen. Unser Herr, seine Tugenden,
seine Lehren, seine Werke sind das vollendete Ideal der Vollkommenheit, dem der
Mensch nachstreben muss.
Die Regeln zur Erlangung dieser Vollkommenheit finden
sich im Gesetze Gottes, das, niedergelegt im Alten Testament, von Jesus
Christus bestätigt und erfüllt worden ist: «Ich bin nicht gekommen, das Gesetz
und die Propheten aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen» (Matth. 5, 17);
ferner in den Weisungen Jesu an seine Jünger und in den evangelischen Räten.
Und damit der Mensch nicht dem Irrtum verfalle, in der Auslegung der Gebote und
Räte, hat unser Herr Jesus Christus eine unfehlbare Kirche gegründet, die den
göttlichen Beistand besitzt, um in Sachen der Glaubens- und Sittenlehre nicht
zu irren. Die Treue zum kirchlichen Lehramt ist demnach die Art und Weise, wie
alle Menschen das Ideal der Vollkommenheit, das ist unseren Herrn Jesus
Christus, erkennen und ihr Leben nach diesem Ideal gestalten können.
Das haben die Heiligen getan. Indem sie auf heroische
Weise die Tugenden übten, welche die Kirche lehrt, leisteten sie Christus und
dem himmlischen Vater vollkommene Nachfolge. Die Wahrheit, dass die Heiligen
höchste moralische Vollkommenheit erreicht haben, wurde sogar von den Feinden der
heiligen Kirche, wenn Wut und Bosheit sie nicht verblendeten, anerkannt und
verkündigt; vom hl. Ludwig, König von Frankreich, schrieb zum Beispiel
Voltaire: «Es ist dem Menschen nicht möglich, die Tugend noch weiter zu
führen». Dasselbe könnte man von allen Heiligen sagen.
Gott ist der Urheber unserer Natur und folglich auch
aller Fähigkeiten und Vorzüge, die in ihr angelegt sind. Was in uns nicht von
Gott kommt, sind unsere Fehler: Folgen und Früchte der Erbsünde und der
persönlichen Sünden.
Die 10 Gebote Gottes können nicht gegen die Natur
gerichtet sein, die ja auch von Gott erschaffen wurde; denn in Anbetracht
dessen, dass Gott vollkommen ist, kann es keinen Widerspruch in seinen Werken
geben. Deshalb tragen uns die 10 Gebote ein Handeln auf, das uns auch von
unserer eigenen Vernunft als unserer Natur gemäß empfohlen wird wie zum
Beispiel Vater und Mutter ehren; und andererseits werden uns Taten verboten,
die wir vernünftigerweise als gegen die natürliche Ordnung gerichtet ansehen
müssen, zum Beispiel die Lüge.
Auf dieser Übereinstimmung beruht die innere
Vollkommenheit des Gesetzes als Ausdruck der natürlichen Ordnung wie auch die
persönlich erworbene Vollkommenheit dessen, der dieses Gesetz befolgt. Alle
Handlungen des Menschen sind gut (nach dem Gesetz), sofern sie seiner Natur
gemäß sind.
Als Folge der Erbsünde neigt der Mensch dazu, gegen seine
Natur zu handeln. So ist er in Bezug auf seinen Verstand dem Irrtum,
hinsichtlich des Willens dem Bösen unterworfen. Diese Neigung ist so stark, dass
es ohne die Hilfe der Gnade dem Menschen nicht möglich ist, den Vorschriften
der natürlichen Ordnung in seinem Denken und Tun nachzukommen. Gott hat die
Richtlinien dieser Ordnung auf dem Berge Sinai geoffenbart; im Neuen Bund
stiftete er eine Kirche, welche die Menschen schützen soll gegen Trugschluss
und Sünde; durch die Einsetzung der Sakramente sowie der anderen Mittel der
Frömmigkeit, die dazu bestimmt sind, sie in der Gnade zu befestigen, beugte er
der Schwachheit der Menschen vor.
Die Gnade ist eine übernatürliche Hilfe zur Kräftigung
des Menschen an Verstand und Willen, damit ihm das Leben der Vollkommenheit
möglich werde. Gott verweigert niemanden seine Gnade. Deshalb ist die
Vollkommenheit für alle erreichbar.
Kann ein Ungläubiger die Gebote Gottes erkennen und
erfüllen? Erhält er die Gnaden dazu von Gott? Hier muss man unterscheiden.
Grundsätzlich erhalten alle Menschen, die mit der katholischen Kirche in
Kontakt kommen, genügend Gnaden, um zu erkennen, dass sie die wahre Kirche ist,
auch dazu, in sie einzutreten und die Gebote beobachten zu können. Wenn daher
jemand freiwillig sich von dieser Kirche fernhält, sei es, dass er ihr untreu
wird und sie verlässt oder dass er die Gnade der Bekehrung verweigert, die ja
der Ausgangspunkt aller anderen Gnaden ist, schließt er für sich die Pforte des
Heiles. Wenn es aber jemand nicht vergönnt ist, die heilige Kirche kennen zu
lernen, weil er zum Beispiel als Heide in einem Land wohnt, das noch nicht den
Besuch der Missionare erhalten hat, so bekommt er doch genügend Gnade, um die
Gebote Gottes wenigstens in ihren wesentlichen Grundzügen zu erkennen und sie
beobachten zu können (Röm. 2, 14-15); denn Gott enthält keinem Menschen die
Mittel zur Rettung vor.
Doch muss man bedenken, dass, wenn die Treue gegenüber dem
Gesetz Gottes Opfer, ja manchmal heroische Opfer verlangt, und zwar selbst von
Katholiken, die im Schoße der Kirche leben, eingetaucht in eine Überfülle von
Gnaden und anderen Mitteln der Heiligung, die Schwierigkeit, das Gute zu
verwirklichen, noch viel größer ist für diejenigen, die außerhalb der Kirche
und dieser Überfülle leben. Daher erklärt es sich, dass Heiden, welche die
Gebote Gottes erfüllen, so selten sind.
Übersetzt ins Deutsche aus dem
Portugiesischen "A Cruzada do século XX" („Der Kreuzzug des 20.
Jahrhunderts“) in Catolicismo, Januar 1951
© Nachdruck der deutschen Fassung ist nur mit
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